Dienstag, 6. Februar 2024

Die Schönheit des Giesskannenprinzips

Stellen Sie sich vor, Sie sind bei einem Vortrag.
Vor dem eigentlichen Reden tritt der Veranstalter vor das Publikum und sagt, dass es im Anschluss einen Apéro gebe. Nun habe man nur Wein und Sekt vorbereitet, sei auch der Meinung, jede und jeder könne heute auch mal etwas trinken. Ausgenommen seien aber Menschen mit einem Alkoholproblem. Er wolle deshalb fragen, ob es trockene Alkoholkranke gebe, für diese Personen würde man Mineralwasser und Orangensaft bereitstellen.
Wie viele werden sich melden, werden aufstrecken und sagen: Yes, Ja, Oui, wir sind trockene Alkis und wir hätten gerne Wasser?

Stellen Sie sich vor, der Vortrag findet nun statt.
Der Referent beginnt seine Rede so: «Ich würde gerne meine Ausführungen mit einem Zitat von Stefan George beginnen. Nun ist das ein bisschen kompliziert, der Rest meines Vortrages wird dann einfacher. Wenn es aber zu viele Dumme und Ungebildete hat, dann verzichte ich auf George und bringe etwas von Wilhelm Busch. Ich möchte nun also fragen, wer von Ihnen kein Abitur hat. Bitte heben Sie die Hand.»
Werden – abgesehen davon, dass ich Menschen ohne Bildungsabschluss kenne, die mit Begeisterung Stefan George lesen und Menschen mit Abi oder Matura, für die schon Wilhelm Busch zu kompliziert ist – sich wirklich Menschen melden und sich als «doof», «dumm» oder «ungebildet» outen?

Am Ende des Referates lädt der Redende Sie ein, seinem Verein, der sich um die Themen seines Vortrages kümmere, beizutreten.
Er habe Flyer vorbereitet, Flyer, auf denen der normale Beitrag von 100 Franken pro Jahr verlangt wird, wenn aber Leute weniger Geld hätten, gebe es Mitgliedsanträge mit 20 Franken, die er aber dann noch holen müsse. Wer also zu den Ärmeren gehöre, wer Sozialhilfe bekomme, oder arbeitslos sei, oder sogar arbeitsscheu oder irgendwie sonstwie verarmt, könne sich jetzt melden…

Nun stellen Sie sich vor, auf Sie träfen alle drei Punkte zu.
Und Sie gehören zu den wenigen Menschen, die immer ehrlich sein müssen.
Am Anfang melden Sie sich als trockener Alkoholiker. Sie geben zu, dass Wein oder Sekt für Sie nicht in Frage kommt, und wünschen sich Mineralwasser oder Saft.
Als nächstes outen Sie sich als Nicht-Abiturient, Sie lesen zwar George, Trakl, Benn, Hölderlin, genauso wie Kant oder Nietzsche ohne Mühe, aber in der 10. und 11. Klasse waren Partys und Mädchen, Motorräder und Fussball einfach wichtiger, Sie haben zwar das Gymnasium besucht, aber in der Elften abgebrochen und eine Lehre gemacht.
Ja, und dann ist da noch die finanzielle Seite, Sie haben versucht, sich selbstständig zu machen, und dann kam halt der Alkohol, den Sie zwar seit 10 Jahren besiegt haben, aber die Kasse ist halt noch immer nicht gut gefüllt. Also auch hier eine erhobene Hand…

Und jetzt glotzen Sie alle an: Für die Menschen im Raum sind Sie…
…ein Asozialer.
…ein Alki ohne Bildung
…ein suspektes Subjekt
…Abschaum
…ein Mensch, mit dem man eben nicht im gleichen Raum sein möchte

Wäre es nicht besser, ein reichhaltiges Getränkeangebot zu machen – oder sogar ein alkoholfreies, was für die, die gerne einen Wein trinken, aber nicht unbedingt brauchen, ja kein Thema sein sollte?
Wäre es nicht besser, einen Text zu wählen, den alle verstehen, vielleicht nicht Busch, aber irgendetwas Nettes von Storm oder Heine?
Wäre es nicht besser, mit Spenden und Stiftungsgeldern zu operieren und die ganze Sache billig – oder gar kostenlos – für alle zu machen?

«Gleichmacherei»
«Giesskannenprinzip»
So höre ich jammern. Ja, aber manchmal ist eine auf mich zugeschnittene Lösung eben entwürdigend.
Und daher muss, darf, kann und soll – ein aktuelles Beispiel – eine Rentenlösung eben nicht so aussehen, dass hier wie in den Fragen oben die Bedürftigen sich immer extra melden müssen. Die Schweiz stimmt am 3.3. über eine 13. Auszahlung der AHV, der Rente ab. Eine faire Lösung, und das, obwohl eine gezielte Förderung von geringen Renten effektiver wäre. Auch Deutschland und andere Länder kämpfen immer und stets mit dem Problem, dass einige Leute zu wenig Geld haben.
Aber es geht hier um Würde, nicht um Geld. Wer das ganze Leben gearbeitet hat, der möchte eben nicht aufs Amt müssen, um Zusatzleistungen zu beantragen. So, wie der trockene Alki nicht aufstrecken will, der Nicht-Abiturient sich nicht outen will und der Arme auch nicht.

Manchmal – das ist die traurige Wahrheit – braucht es die Gleichmacherei.
Manchmal braucht es das Giesskannenprinzip.

Und wen die 13. Rente stört, der kann Sie spenden. So wie man ja auch bei jedem Verein und jeder Spendensammlung MEHR geben kann oder überhaupt etwas spenden, auch wenn alles gratis ist…









 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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