Freitag, 1. Dezember 2023

Wer zu spät kommt...

Wenn man Plätze in einem Zug belegt, dann gibt es in der Schweiz ein sauberes Ritual:

Als erstes werden alle Vierergruppen mit je einer Person belegt, je nachdem, wie man besser reist, in oder gegen die Fahrtrichtung, aber immer am Fenster. Gerade wenn man schlafen möchte, ist das der schönste Platz, wenn man anlehnen kann, aber auch sonst ist das Fenster bevorzugt, man ist irgendwie «in die Ecke gekuschelt», separiert, und wenn es Tag ist, kann man hinausschauen. Kann man natürlich auch bei Nacht, aber dann sieht man nichts. Auf jeden Fall setzt sich der erste Mensch ans Fenster, mit oder gegen die Fahrtrichtung.

Der oder die zweite Reisende nimmt den Platz schräg gegenüber. Da man niemand auf die Pelle rücken möchte, ist der Platz schräg gegenüber die Position, bei der man gefühlt einen grossen Abstand hat. Ich sage «gefühlt», denn es handelt sich um Nuancen. Wenn beide Plätze nebeneinander eine Entfernung von 40 cm und die beiden Gegenüber von 80 cm, dann ist der Platz diagonal auch nur 89.44 cm weg. (Wie man das rechnet? Meine Güte, das ist doch das Einzige, was man aus dem völlig unnützen Mathematikunterricht mitgenommen hat: A Quadrat plus B Quadrat ist C Quadrat, der weltberühmte Satz des Pythagoras.) Was toll ist, beide Personen können die Beine ausstrecken. Jedenfalls: Mensch Nummer zwei sitzt schräg gegenüber.

Nun kommt eventuell, vielleicht und möglicherweise eine dritte Person. Sie muss einer der beiden anderen Personen Bein- und Sitzfreiheit rauben. Und da sie das Ritual kennt, weiss, dass der oder die am Fenster der oder die erste ist, und weil sie Respekt vor diesem Zuerst-Kommen hat, setzt sie sich der Person Nummer 2 gegenüber, also Gang, mit oder gegen die Fahrtrichtung, je nachdem, wie man belegt hatte.

So.
Drei Plätze sind besetzt.
Und nun wird es spannend: Ein vierter Homo sapiens nähert sich der Gruppe. Und er kann nicht anders, als sich auf den verbleibenden vierten Platz zu hocken, also gegenüber dem ersten. Er lächelt die anderen Homines Sapientes an, und scheint mit diesem Lächeln lutherisch zu meinen: «Hier sitze ich – ich kann nicht anders.» Und kann ja wirklich in keiner anderen Weise.

Die vierte Person hat also das bekommen, was die anderen beiden Personen sich verkniffen haben: Einen Sitz am Fenster.
Damit widerlegt die Zugbelegung einige Sprüche, die uns weissmachen sollen, dass man niemals der oder die Letzte sein soll:

Den Letzten beissen die Hunde. (europäisch)
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. (Gorbatschow)
Wer zu spät kommt, den frisst die Hyäne. (afrikanisch)

Es gibt also auch Situationen, in denen man am besten ganz, ganz, ganz spät kommt.

Merkwürdigerweise war mir der Name Besim Ömer Akalım nicht geläufig, obwohl es ein spektakuläres Zuspätkommen war:
Am 10. April 1912 kam er wegen Schwierigkeit auf der Reise durch Frankreich nach England zu spät im Hafen Southampton an und versäumte sein Schiff – übrigens als einziger Passagier. Das war Glück, denn – Sie ahnen es ja längst – es war die Titanic.

Gleiche Storys könnte man wahrscheinlich von allen grossen Katastrophen erzählen, aber meistens haben wir die Informationen nicht.
Wer stand am 11. September in Brooklyn im Stau und ärgerte sich grün und blau (ungewollter Reim), dass sein reservierter Platz im «Windows of the World» leer blieb? Also, ärgerte sich so lange, bis er im Radio erfuhr, dass «Windows of the World» nicht mehr existierte?
Wir kennen die Namen nicht, die betreffende Person / die betreffenden Personen dürfte / dürften glücklich gewesen sein.
Wer hing am 31. Oktober 1755 in Porto fest und ärgerte sich, dass er am Allerheiligenfest nicht in Lissabon sein würde? Bis er mitbekam, dass Lissabon dem Erdboden gleich gemacht worden war?
Wir kennen keine Namen…

Bei einer Party ist es übrigens so wie bei den Zugplätzen:
Entweder man kommt ganz früh, dann hat man die Aufmerksamkeit des Gastgebers und den Zugriff auf das (noch) komplette Buffet. Wenn der Hauptpulk kommt, hat der Gastgeber keine Zeit und Kaviar, Lachs, Hummer und Champagner sind schon weg. Kommt man aber erst um Mitternacht, dann hat nicht nur die volle Aufmerksamkeit ALLER Gäste – und das Kommen wird zum Auftritt – der Gastgeber hat auch wieder Zeit, Kaviar, Lachs, Hummer und Champagner extra für einen zu holen.

In den Schweizer Zügen gibt es eine strenge Belegungsregel:
Fenster – Gang – Gang – Fenster
Und diese zeigt, dass man einige Sprüche umschreiben muss:

Dem letzten lecken die Hunde die Füsse.
Den letzten lassen die Hyänen in Ruhe.
Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen