Freitag, 22. Dezember 2023

Respekt für Gott und einen Waffenstillstand für die Menschen (???)

Wir alle kennen die Stelle, die am Heiligen Abend in allen Kirchen gelesen wird:

«Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.» Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.»

Nun habe ich neulich von Herbert, einem Freund, der nicht nur Theologe, sondern auch begeisterter Gräzist ist, eine völlig neue Übersetzung zugeschickt bekommen:

«Mindert eure phobische Einstellung um 40% – mit oder ohne Medikamente. Schaut mal her (also von eurem Smartphone weg), ich habe relativ gute Nachrichten, die immerhin für 80% der Bevölkerung gelten. Der oder die kosmische Retter*in ist geboren, blöderweise ist er/sie/es noch sehr, sehr klein und blöderweise ist er/sie/es auch noch in einem sehr blöden Gebiet geboren, in Bethlehem im Westjordanland.»
Und diese Message ging viral, sodass ganz viele einstimmten: «Respekt für Gott und einen Waffenstillstand für die Menschen.»

Ich war entsetzt. Gibt es keine «grosse Freude» mehr? Kann man nicht mehr «fürchtet euch nicht» sagen? Gibt es nichts mehr, das für alle gilt? Keine «Ehre»? Keinen «Frieden»?
Ich rief meinen Kumpel an, der mir dann alles detailliert erklärte:

Weisst du, so meinte Herbert, der Lukastext ist in der vertrauten Luther-Übersetzung viel zu absolut. Das sind alles so starke Begriffe, die kann doch kein Mensch ertragen.

Nehmen wir doch nur mal den «Frieden». Weisst du, was das Wort wirklich heisst? Das ist gross, gross, sehr gross, da ist sehr viel Menschlichkeit und Humanismus und Philosophie drin, das würde ja auch bedeuten, dass ich den anderen nicht mehr hasse, ihn irgendwie verstehe, die meisten Leute auf der Welt wären doch schon froh, wenn keine Bomben mehr fliegen. Stell dir vor, es gäbe einen weltweiten, haltenden, dauernden Waffenstillstand, das wäre doch schon irrsinnig, oder? Wenn du bedenkst, dass der normale Waffenstillstand nur ca. 4,8 Stunden (im Durchschnitt) hält?
Ich musste ihm leider recht geben.

Oder nehmen wir die «Ehre», so er weiter: «Das versteht doch keine Sau mehr. Und wird auch nicht mehr praktiziert. Früher wurde das Alter geehrt, die Weisheit, usw. Früher standen zum Beispiel die jungen Leute auf, wenn ein Rentner das Tram betrat, heutzutage muss man ja schon froh sein, wenn einen die Teenager nicht vom Sitz zerren und sich selber hinfläzen. Nein, Respekt ist das Höchste, was man verlangen kann, die Ehre und die Zeiten der Ehre sind vorbei. Und wie soll man Gott ehren, von dem man ja gar nicht mehr annimmt, dass er existiert? Ein Konfirmand sagte mir neulich, dass er ein Gebet entworfen habe, das folgendermassen geht:
Herr, ich fände (!) es OK, wenn du existieren würdest (!).»

Erschrocken gab ich Herbert wieder recht, fragte dann aber doch noch nach den Ängsten. Es muss doch möglich sein, sich NICHT zu fürchten, FREI von Ängsten zu sein. Oder?
Eine völlig Absenz von Phobien, so er, sei eine totale Utopie. Wikipedia nenne eine Liste von 112 Phobien (wenn er richtig gezählt habe…), von Abortphobie (Angst vor Fehlgeburten) bis Zoophobie (Angst vor Tieren), rein statistisch hätten Sie also alle Menschen MEHRERE dieser Ängste. Jeder Mensch fürchte sich also immer, permanent, dauernd vor irgendetwas. Den Leuten zu wünschen, dass sie frei aller Ängsten würden, sei eine fast gefährliche Utopie. Nein, er wünsche allen, dass sie von ihren 4-5 Phobien vielleicht 2-3 loswürden und den Rest mit geeigneten Medikamenten in Schach hielten.

Ich wurde immer resignierter. Und «Freude», fragte ich, gäbe es die auch nicht mehr.
Freude, so Herbert, Freude sei nun ein ganz heikler Begriff, Freude sei nun ganz schwierig, und vor allem auch noch Freude, die für die Mehrheit der Leute gälte. Früher, da seien alle Bauern gewesen und hätten sich alle im Gleichmass gefreut, sie im Frühjahr über die Wärme und im Sommer über den Regen und im Herbst über die Sonne und im Winter über die Ernte. Heute gebe es doch immer jemanden, dem die Sache nicht Recht sei.
Alle freuten sich über den Frieden – ausser den Waffenhändlern.
Alle freuten sich über die Ehre Gottes – ausser den Atheisten und den Maklern, die Kirchen aufkauften.
Alle freuten sich über die Abwesenheit der Ängste – ausser den Psychotherapeuten.
usw.

Völlig ernüchtert gab ich auf.
Einziger Trost ist, dass sich der Herbert-Text wahrscheinlich nicht durchsetzen wird. Und so freue (ja!) ich mich auf das Weihnachtsoratorium am 24. 12., denn bei Bach ist der Text eben noch der alte, mit «Friede», «Freude», mit «Fürchtet euch nicht!».
Und das ist gut so.

…Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. 

Und in diesem Sinne dann: FROHE WEIHNACHTEN!



 

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