Freitag, 8. Dezember 2023

Rettet die Inhaltsverzeichnisse

Ich lese «Nichts hören» von Christian Tiefker.
Am Anfang des wunderbaren Buches stosse ich, nach einer Art Motto, auf eine Seite mit der Ankündigung

I.
G.-Mitte-West

Scheint so eine Art Grossteil zu sein, der sich eventuell dann noch in Kapitel unterteilt. (Dies zeigt sich nach mehrfachem Umblättern als korrekt.)
Aber existieren noch andere Teile? Muss ja wohl so sein, sonst würde die römische Eins ja keinen Sinn machen. Also fröhlich geblättert, und tatsächlich stosse ich noch auf drei weitere Teile:

II.
Steiles und Täubchen
III.
Zahnfüllung
IV.
Vorhand

Scheint eine spannende Lektüre zu werden.

Warum aber – so beginne ich mich zu fragen – muss ich im Buch herumblättern, herumschnüffeln, herumsuchen, um diese Spannung bei mir zu erzeugen, warum tut man diese Angaben nicht mehr so wie früher an den Anfang (oder das Ende) des Buches in eine Liste? Eine Liste, die die Titel und die Seitenzahlen vereint, eine Liste, wie ich sie aus meiner Jugend kenne. Ich rede von der aussterbenden Gattung des Inhaltsverzeichnisses.

Gut, in wissenschaftlichen Arbeiten ist nach wie vor ein Inhaltsverzeichnis absolutes Muss. Hier haben wir – im Gegensatz zur Belletristik – eher das Problem, dass einen das Inhaltsverzeichnis völlig abtörnt:

1. Einleitung
1.1. Fachliche Grundgedanken
1.1.1. Das Thema der Arbeit heute
1.1.2. Das Thema der Arbeit gestern
1.2. Editorische Grundgedanken
1.2.1. Die Edition heute
1.2.2. Die Edition gestern

Eine solche Liste zeigt einem ja eher zu zeigen: «Pass auf, Kerl. Lies das nicht weiter, es ist völlig öde und irrelevant, ich schreibe das nur um den Titel zu bekommen, später die geile Stelle und weil ich viel Kohle verdienen will. Wenn du die wenigen Gedanken, die ich zu 678 Seiten ausgewellt habe, brauchst, dann gehen wir ein Bier trinken und ich erzähle dir die dürftige Substanz dieser Doktorarbeit in 5 Minuten…»

Nein, solches meine ich nicht, ich bin ein Fan von Inhaltsverzeichnissen in Romanen. Wann sind die ausgestorben? Und warum sind die ausgestorben?
Ich liebte als Kind die Verzeichnisse von Büchern, die wie folgt aussahen:

Das erste Kapitel
…in dem der Held geboren wird und sich gleich darüber wundert, in dem er in die Welt (also aus dem Wald aufbricht) und einem Fuchs folgt.
Das zweite Kapitel
…in dem der Fuchs sich wundert, dass so viel Wald auf der Welt ist und sich zähmen lässt.
Das dritte Kapitel
…in dem eine neue Figur auftaucht und wieder verschwindet, der Held den Fuchs tötet und den Schatz nimmt.

Das ist doch wundervoll.
Ich werde eine Bewegung ins Leben rufen, die sich um die Rettung der Inhaltsverzeichnisse kümmert. Sie wird Demonstrationen und Kundgebungen organisieren und schliesslich ein Gesetz durchsetzen, das Belletristik ohne Inhaltsverzeichnisse verbietet.
Und als meinen Beitrag werde ich alle meine 1171 Posts (ja, ja, ja, so viele sind es schon) in einem grossen Verzeichnis im Stil des 19. Jahrhundert ordnen:

Der erste Post
…in dem der Autor schildert, warum er den Nobelpreis noch nicht hat, und wie er ihn erlangen könnte.
Der zweite Post
…in dem der Autor sagt, warum er keinen Dönerpass will und schwarz mit der Schwebebahn fährt.
Der dritte Post
…in dem der Autor meint, dass die Jugend früher auch nicht intellektueller war als die heute.

In diesem Sinne: Einen schönen Tag. Und unterzeichnen Sie unter

www.rettet-das-inhaltsverzeichnis.com

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