Dienstag, 19. Mai 2020

"Ranziger Post" 3: Ist die Krise eine Chance? (geschrieben am 29. 3. 2020)


Ist die Krise eine Chance? So nach dem Motto: Entschleunigen, Entschleunigen, Entschleunigen. Oder neue Wege des Lebens, auch des Berufslebens finden, Online, Homeoffice, und dann noch mal Entschleunigen, hat ja alles auch etwas Spannendes und Meditatives…

Stopp. Nochmal stopp und dreimal stopp.

Ich finde, das ganze Geschwätz hat etwas Zynisches. Gut, ich selbst bin in einer sehr entschleunigten und sehr meditativen Phase. Ich schlafe jeden Tag aus (also 6.30 aufstehen statt 4.45) und habe Bereiche meiner Wohnung aufgeräumt und geputzt, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass sie existieren. Aber ich befinde mich in einer doppelt privilegierten Situation: 

A)  Ich bin gesund (noch?). Für einen Menschen, der im Sterben auf der Intensivstation liegt, ist die Krise nämlich keine Chance, sondern das Ende. Gut, wenn man ein gläubiger Mensch ist, kann man sagen, dass die betreffende Person jetzt bald im Himmel ist und in ewiger Wonne und Seligkeit schweben und keine Sorgen mehr haben wird, ausser beim Hallelujasingen die richtigen Töne zu treffen. Aber auch das hat etwas Zynisches, wir leben ja nun doch alle viel zu gerne, als dass wir möglichst bald im Paradies sein möchten. Und wenn man kein Allversöhner ist, sondern an eine Hölle glaubt, ist das eben dann auch der Weg hinab in die ewige Finsternis.

B) Ich habe feste Anstellungen. Das ist im Moment mehr als Gold, mehr als Silber und mehr als Platin wert. Ich kenne so viele Leute, die zurzeit einfach nicht wissen, wo im nächsten Moment Geld herkommen soll. Gut, Buchläden und Boutiquen, Papeterien und Antiquitätenläden weisen darauf hin, dass sie weiterhin im Geschäft sind und man über Telefon, Brief und Internet bestellen kann und dass dann geliefert wird oder abgeholt werden kann. Aber wie macht es ein Café, ein Restaurant, wie macht es eine Kneipe, eine Beiz, wie machen es Lokale, Wirtshäuser oder Gaststätten? Da wird es schwierig mit Online, mit Internet, und sein Bier sich „to go“ holen macht ja auch keinen Spass, vor allem, wenn man den Stammtisch – ob des Verbotes, sich in Gruppen irgendwo aufzuhalten – ja auch nicht mit dem Togo-Bier einfach in den Park verlegen kann…

Ist die Krise eine Chance?
Die Frage wird komischerweise in 3Sat Kulturzeit oder TTT (Titel, Thesen, Temperamente) immer von den ähnlichen Typen beantwortet.
Prof. Dr. Hans Michael Bruder, Soziologe von der Uni Bonn sagt: „Könnte schon sein.“
Dr. Anne-Rose Gütterli-Hozzaiola, Chefredakteurin von „Psychologie Schweiz“ antwortet: „Wahrscheinlich.“
Prof. Dr. Gundula Homberberger, Philosophin von der Uni Hannover meint: „Wir müssen es einfach zu einer Chance machen.“
Dr. Friedrich von Sayn, Historiker und Publizist äussert: „Ganz sicher ja.“
Dr. Rosamunde von Hohenlohe, Coach und Buchautorin gibt bekannt: „Jeder macht eine Krise zur Chance oder Katastrophe.“

Ich bekomme das Kotzen (s.v.v.), wenn ich die wohlangezogenen Herrschaften dasitzen sehe. (Auf skype natürlich, das ist der Krise geschuldet) und über Chancen reden. Denn, werte Herrschaften Bruder, Gütterli-Hozzaiola, Homberberger, von Sayn und von Hohenlohe, Sie haben verdammt (s.v.v.), Sie haben scheiss (s.v.v.) sichere Stellen oder sind aus höchstem Hochadel, Sie müssen nicht schauen, wie Sie über die Runden kommen, wenn man also gesund ist und das Geld kommt (oder wie in den Häusern Sayn-Wittgenstein oder Hohenlohe schon da ist…), dann kann man eine Zeit ohne Konferenzen und Meetings, frei von Stehempfängen und gesellschaftlichen Anlässen durchaus als „entschleunigt“ als „beruhigend“ empfinden.

Ich hätte gerne einmal eine Reportage aus einer Normal-Familie. Da sehen wir die Eltern, die sich bislang nur deshalb nicht umgebracht haben, weil sie beide 8 Stunden ausser Haus waren, nun hocken sie sich auf der Pelle und stellen sich die drei entscheidenden Fragen:
War er/sie immer schon so blöd/nervig/brutal?
Wieso habe ich ihn/sie überhaupt geheiratet?
Wäre ein Gatten/Gattinnen-Mord in Zeiten von Corona straffrei?
Dazu lärmen die Kinder im Hintergrund, oder sie hocken homegeschoolt am PC und rufen: „Mama, wie ging nochmal der Pythagoras?“ (Als ob Mama das wüsste.) Sie schreien: „Papa, schreibt man Ökologisch mit k oder ck?“ (Als ob Papa das wüsste.) Sie brüllen: „Was heisst Ziege auf Englisch?“ Und Papa antwortet genervt „the zigg“ und Mama antwortet genervt „the gice“, und die Kinder schreiben das hoffentlich nicht auf.

Ist die Krise eine Chance? So nach dem Motto: Entschleunigen, Entschleunigen, Entschleunigen. Oder neue Wege des Lebens, auch des Berufslebens finden, Online, Homeoffice, und dann noch mal Entschleunigen, hat ja alles auch etwas Spannendes und Meditatives…

Stopp. Nochmal stopp und dreimal stopp. Und viermal und fünfmal.

P.S. Ziege heisst auf Englisch übrigens „goat“.







  

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