Freitag, 27. Dezember 2019

Special Kleine Dinge (5): Der Klebe-Streifen


Wenn ich neue Noten bekomme, die kein gebundenes Buch sind und keine geheftete Broschüre, wenn ich einen Stapel ausdrucke, oder wenn ich eine Partitur grosskopiert habe, dann gibt es ein erstes, fröhliches Ritual: Das Kleben. Ich setze mich an meinen Schreibtisch, lege Blatt neben Blatt und klebe jeweils, zwei Seiten verbindend, einen Streifen jener genialen Sache, die der Schweizer simpel als «Klebstreifen», der Deutsche nach dem am häufigsten verwendeten Produkt «Tesafilm» nennt. (Man nennt das übrigens – verzeihen Sie mir die Klugscheisserei – generische Markennamen oder Deonyme.) Während des Klebens höre ich meist ein wenig Radio, und nach kurzer Zeit habe ich ein kleines feines Büchlein.

Dieses Kleberitual habe ich mir angewöhnt, nachdem ich verschiedene Erfahrungen mit anderen Zusammenhaltetechniken bzw. Nicht- Zusammenhaltetechniken gemacht habe, die sich allesamt als nicht brauchbar erwiesen haben.
Es wäre z. B. viel schneller, einfach das zu tun, was nun witzigerweise der Schweizer meinungsmonopolisierend als «bostitchen», der Deutsche als «heften» oder «tackern» bezeichnet, also den ganzen Stapel unter so ein Gerät legen, drauf hauen und gut ist, aber die Broschüre lässt sich dann nicht mehr blättern, jedenfalls nicht, wenn man sie nicht in der Hand hält sondern vor sich hat, also total unpraktisch zum Dirigieren oder Klavier spielen.
Sehr professionell sieht auch die Variante «Ordner mit Ringbindung und Zeigetaschen» aus, hier könnte man sogar einzelne Elemente rausnehmen, z.B. wenn der 3. Satz nicht musiziert wird, aber wehe! wehe! wehe! wenn Sie im Konzert so sitzen oder stehen, dass ein Scheinwerferlicht auf die spiegelnde Zeigetasche fällt, sie sehen nichts mehr.
Und die Blätter einfach weiterschieben? Ich habe das einmal gemacht. Nein, das muss ich jetzt anders schreiben: Ich habe das EINMAL gemacht, EINMAL und nie wieder. Es war bei einem Konzert der Knabenkantorei Basel in der Kathedrale in Genf und ich traktierte die Chororgel. Ein barockes Stück, bei dem ich das Continuo spielte, hatte 9 Seiten, die ich hintereinandergelegt hatte und einfach jeweils nach links schob. Beat Raaflaub, der damalige Dirigent, gab den Einsatz und da durchzuckte mich der Gedanke:
Liegen die Blätter in der richtigen Reihenfolge?
Der Schweiss begann, an meinem Rücken entlang zu rinnen, meine Hände zitterten und bei jedem gesungenen Takt mahlte es in meinem Kopf:
Liegen die Blätter in der richtigen Reihenfolge?
Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich keine Chance gehabt, aber natürlich waren die Seiten geordnet. Aber den Stress tut man sich nur einmal im Leben an. 

Der Klebstreifen also.
Der Tesafilm.
1935 von der Firma Beiersdorf als Beiersdorf-Kautschuk-Klebefilm auf den Markt gebracht und zunächst nicht erfolgreich, bis man ihm den griffigen Namen TESA gab, erfunden übrigens von der Kontoristin Elsa Tesmer, die für einen firmeneigenen Markennamenwettbewerb einfach ihren eigenen Namen verwurstelte.

Der Klebstreifen, der Tesafilm, der TIXO (wir müssen die Österreicher doch nun auch noch ins Boot nehmen) ist eines der nützlichen Dinge, die allerdings genauso oft gebraucht wie missbraucht werden. So selbstverständlich wie man bestimmte Dinge mit Tesafilm verbinden sollte, sollte er bei anderen Sachen draussen bleiben.
Bilder aufhängen zum Beispiel.
Im 1993 erschienenen Roman Der Mann, der es wert ist schildert die Autorin Eva Heller, wie ein Hotel eingerichtet wird. Als man feststellt, dass die Lobby noch sehr kahl aussieht, annonciert man die Möglichkeit, dass Künstlerinnen und Künstler dort Bilder ausstellen können. Und nun erscheinen die skurrilsten Gestalten, unter anderem eine Öko-Mutter, die ihre Tochter mit Fingerfarben auf Packpapier patschen liess. Auf die (ironisch gemeinte) Frage nach der Hängung antwortet sie: «Einfach mit Tesafilm an die Wände. Das sieht lustig aus.» Hier muss man als Leserin oder Leser natürlich schmunzeln – oder sich schütteln. Es sieht nicht lustig aus. Es ist nur schräg. 
Nein, ein Tesafilm ist keine Hängeoption für Kunst, es sei denn, man heisst Maurizio Cattelan, ist ein berühmter Künstler und klebt eine Banane mit einem – immerhin nicht normalen Tesafilm, sondern – silbrigen Faserband an die Wand, dann ist das 120.000.- wert.

Ebenso wenig wie Bilder mit Klebstreifen an Wänden befestigt werden sollten, sollte man die Tesas für Reparaturen verwenden. «Hausfrauenleim» sagte man – etwas frauenfeindlich – früher und meinte damit, dass Geräte und Apparate, die gewisse Risse und Beschädigungen aufwiesen, einfach mit Streifen jener Bänder zugeklebt wurden. Mir wird schwindlig, wenn ich daran denke, wie viele Schranktüren ich aufgemacht, wie viele Lampen ich angeschaltet, wie viele Haken ich angefasst, mir wird übel, wenn ich mir vorstelle, wie viele Bohrer, Haushaltsmaschinen, Föns und Rasierapparate ich angelangt habe, bei denen nur ein paar dünne Tesafilms das Ganze noch hielten.
Nein, eine Reparaturmöglichkeit ist der Klebstreifen nicht, da ist zu viel Gefahr drin.

Immer, wenn ich neue Noten bekomme, wenn ich einen Stapel ausdrucke, wenn ich eine Partitur grosskopiert habe, dann gibt es ein fröhliches und feierliches Ritual: Das Kleben. Ich setze mich an meinen Tisch, lege die Blätter hin und klebe.
Und bin dankbar, dass die Firma Beiersdorf jene geniale Sache erfunden hat, die der Deutsche Tesafilm, der Schweizer Klebstreifen und der Österreicher Tixo nennt.
Man muss sie nur für die richtigen Angelegenheiten verwenden.


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