Freitag, 15. November 2019

Jeder Mensch ist ersetzbar (auch wenn Herr Morales anders denkt...)


Kein Mensch ist unersetzlich.
Kein Mensch ist unentbehrlich.
Kein Mensch hat eine Position, die von keinem anderen wahrgenommen werden könnte, kein Mensch hat etwas erreicht, das von keinem anderen weitergeführt werden könnte.
Kein Mensch ist so wichtig, dass er nicht in Pension gehen könnte, dass er sein Amt nicht weitergeben könnte und sich zur Ruhe setzen.
Kein Mensch ist unersetzlich.

Ausser Jaap Willemsen natürlich, der Küster der St. Holda-Kirche in Bruchbüttel. Er könnte nie in Rente gehen, er war auch nie krank und nie in Ferien.
Ohne ihn geht nichts.
Nur er weiss, welcher der 145 Schlüssel welche Funktion hat und welcher Bart dieser einhundertfünfundvierzig Schlüssel in welches Loch passt. Nur er kennt den Inhalt der ca. hundert Schränke in Sakristei, Eingang, Dachboden und Gemeindesaal, weiss, wo sich die weissen und die roten Kerzen, wo sich Tischtücher und Putzlappen befinden. Und nur er hat Ahnung von den unzähligen Schaltern für Licht und Glocken.
Jaap Willemsen ist unersetzlich.

Ja, und Hubert Moser natürlich, der Dirigent der Musikgesellschaft Oberdorf (TG) e.V. Er könnte nie in Rente gehen, nie in Pension. Nur er kennt sämtliche Musikerinnen und Musiker des Thurgaus, weiss, wen man als Aushilfe für die Bassklarinette fragen kann und wen als Gast für das Marimbaphon, er weiss, welcher Verein die Noten für den Wohlgefallen-Marsch ausleiht und welche Musik die Partitur vom Ländler-Potpourri. Er ist so völlig vernetzt, dass diese Vernetzung niemand anderes hat und bieten kann.
Hubert Moser ist unersetzlich.

Ja, und natürlich Jean Dupont, der Chefkoch vom Château du Rose in Dijon, er hat alle Rezepte im Kopf, das seiner unvergleichlichen Consommé genau wie das seiner Ente mit Kräutern, nur er weiss, wie die Fischsuppe gemacht wird und natürlich kennt nur er die Zutaten jener Pfirsich-Mousse, die dem Château du Rose letztendlich seinen Michelin-Stern eingebracht hat.

Aber natürlich ist das alles Quatsch.    
Willemsen, Moser und Dupont sind nicht unersetzlich, sie probieren, sich unersetzlich zu machen. Der gute Küster könnte ja mal Klebeetiketten und Schlüsselanhänger und vor allem einen Filzstift kaufen und Schlüssel, Kästen und Schalter beschriften, dann wäre ein potentieller Nachfolger nicht so völlig überfordert. Der werte Herr Dirigent könnte seine Kontakte mit dem Präsidium oder dem Vorstand des Vereins bekanntmachen, so dass Aushilfen und Ausleihe eben auch über andere Leute laufen könnten. (Wie es übrigens in fast allen Chören und Musiken der Fall ist…)
Und Dupont? Er müsste einfach Zettel und Papier nehmen und die Rezepte seiner unvergleichlichen Consommé, genau wie das seiner Ente mit Kräutern, der Fischsuppe à la Chef und der sternebringenden Pfirsich-Mousse einfach aufschreiben.
Willemsen, Moser und Dupont, der Küster, der Dirigent und der Koch (klingt jetzt fast nach einem Filmtitel…) haben eine Aura der Unersetzlichkeit, der Unabdingbarkeit, der Singularität künstlich geschaffen.

Das Gefühl, absolut unersetzbar zu sein, der Einzige zu sein, der es kann, der es weiss, der die Dinge am Laufen hält, der Einzige zu sein, der drauskommt, verleiht eine gewisse Arroganz. Ja, es macht wahrscheinlich sogar ein richtiges Arschloch (sit venia verbo) aus einem.
Willemsen könnte an jedem Sonntag zu spät kommen, was will der Kirchenvorstand machen? Kündigen kann man dem Guten ja nicht, weil sonst das totale Chaos ausbräche, wenn man nicht einmal weiss, welcher Schlüssel passt.
Moser könnte die unmöglichsten Stücke aussuchen, langweilig, öde und abgespielt, aber man kann ihn ja nicht zur Rede stellen, denn dann droht er, den Bettel hinzuschmeissen und dann geht ja gar nichts mehr.
Und Dupont könnte jedem Küchenjungen an den Hintern langen, auch hier ist man ja machtlos, wenn man die Rezepte nicht kennt.

Herr Morales in Bolivien ist wahrscheinlich genau diesem Irrtum erlegen.
Der einstmalige Held der unteren Klassen, der erste indigene Präsident Lateinamerikas, jener Mann, der so viel Erfolge erzielte, der Bolivien in die Gegenwart holte und das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelte, muss irgendwann vor dem Spiegel gestanden sein und gedacht haben:
Ich bin unersetzlich.
Nichts geht ohne mich.
Ich bin Gott.
Ohne mich hört die Erde sich auf zu drehen.
Und dann kandidierte er (verfassungswidrig) für eine vierte Amtszeit, und bei der Wahl wurde dann auch tüchtig gemogelt, eben weil es ohne ihn ja nicht ginge, ohne ihn alle hilflos seien. Aber er hatte sich getäuscht:
Nu isser weg.

Kein Mensch hat eine Position, die von keinem anderen wahrgenommen werden, kein Mensch hat etwas erreicht, das von keinem anderen weitergeführt werden könnte.
Kein Mensch ist so wichtig, dass er nicht in Pension gehen könnte, dass er sein Amt nicht weitergeben könnte und sich zur Ruhe setzen.

Kein Mensch ist unersetzlich.


   



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