Dienstag, 5. November 2019

Der Herbst ist laut! Laubbläser!


Der Urmensch kannte sein Umfeld optisch genau. Er konnte seine Augen benutzen, konnte sie gebrauchen und mit ihnen umgehen. Seine Augen sahen. Sie sahen den kleinen Käfer im Busch und die winzige Beere am Strauch, sie sahen die Wolken und den ersten Regentropfen, sie sahen die Spur des Tigers und die Fährte des Wolfes. Sie sahen in die Welt hinein und gaben ihm alle Informationen, die er brauchte. So konnte der Urmensch auch jede Tages- und jede Jahreszeit mit seinen Augen bestimmen, ein Blick zum Himmel, zum Sonnenstand gab ihm exakter die «Uhrzeit» – das Wort kannte er natürlich noch nicht – als jede Funkuhr heute und er sah an den kleinsten Veränderungen, ob es März wurde oder Mai – auch diese Worte kannte er natürlich nicht. Die Augen des Homo sapiens sahen das erste Blatt im Herbst fallen und den ersten Krokus wachsen, sie sahen das Licht sich im Sommer verändern und bemerkten auch die winzigste erste Schneeflocke.

Diese Fähigkeit ist uns abhandengekommen. Wenn wir nicht auf die Datumsanzeige und die Digitaluhrzeit unseres PCs schauten, wüssten wir überhaupt nicht mehr, ob es Morgen, Mittag oder Abend, ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter ist. Wir fahren mit dem Lift aus unseren airconditionierten Wohnungen in die Tiefgarage und von dort aus durch 1000 Tunnel in unsere airconditionierten Büros, wo wir bei heruntergelassenen Storen den ganzen Tag auf einen Bildschirm starren, dann geht es heim durch abermals 1000 Tunnel, zurück in das Appartement mit Klimaanlage,
in dem wir, wieder vor einem Screen, uns mit TV oder Social Media beschäftigten. Die Augen des Homo modernus sehen nicht mehr das erste Blatt im Herbst fallen und den ersten Krokus blühen, sie sehen nicht das Licht sich im Sommer verändern und bemerken auch die keine noch so grosse erste Schneeflocke.

Zum Glück hat der Mensch seit langem schon akustische Signale entwickelt, die uns die Veränderung am Tag und während des Tages anzeigen. Früher schlug die Stunde von der Kirchturmuhr, später von der Standuhr und heute kann man sich einen Timer einstellen, der alle Stunde piep-piep-piep macht. Die Jahreszeiten hat man durch Feuerwerke (Neujahr/Nationaltag), den Frühlingsbeginn mit Lärm (Fastnacht), den Sommer durch Partynächte und Grillgeräusche manifestiert.
Und den Herbst?
Gut, Blätter fallen zwar wie von weit und mit verneinender Gebärde, wie Rilke schreibt, aber sie fallen geräuschlos.

Und da erfand man den Laubbläser.

Der Laubbläser hat, auch wenn das immer wieder behauptet wird, keinerlei praktische Funktion. Er schafft es nicht, das Laub zu beseitigen, genauso wenig, wie er es schafft, das Laub auf einen Haufen zu konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Putzfrau dabei beobachten, wie sie den Dreck mit einem Besen von der einen Seite des Zimmers in die andere schiebt. Was würden Sie tun? Genau. Sie würden ihr kündigen, höflich, aber bestimmt. Sie würden ihr auch kündigen, wenn Sie sehen würden, wie sie über anklebendem Dreck einfach mit dem Besen fährt, das ist das, was passiert, wenn Laubbläser auf nasses Laub treffen.

Nein, der Laubbläser hat keinen Nutzen, er muss einfach nur laut sein.

Und mit «Laubbläser» meine ich das Gerät, nicht den Menschen. Natürlich hegen wir alle Mordgedanken gegen diese Abwarte und Hauswarte, gegen diese Hausmeister und Strassenarbeiter, planen wir Folter und Qual ob aller dieser Reinigungsfachmänner und Gehwegputzer, die uns unsere Telefonate stören und Musik hören verunmöglichen, aber bitte: Keine reale Gewalt! Diese Menschen können nichts dafür, irgendein Chef oder irgendeine Chefin haben ihnen das Teil in die Hand gedrückt und gesagt: «Beblase heute mal die Hinterhöfe von Hauptstrasse 12 bis 134.»

Obwohl…
Vielleicht haben doch einige der Abwarte und Hauswarte, der Hausmeister und Strassenarbeiter, haben einige dieser Reinigungsfachmänner und Gehwegputzer ihren perversen Spass, ihre grosse Lust daran und empfinden eine gewisse Genugtuung. Es sind ja doch immer nur Männer, die mit diesen Geräten auftauchen und wenn man die Form dieser Apparate anschaut, kommt man sehr schnell auf einen Phallus. Vielleicht denkt doch so mancher: «Ich habe den längsten!» und ein anderer «Ich habe den lautesten» und ein dritter «Ich habe den längsten UND den lautesten.» Und vielleicht muss man den alten Spruch doch umschreiben:
aus
Wer einen kleinen Schwanz hat, hat ein grosses Auto.
wird dann
Wer einen kleinen Schwanz hat, hat einen grossen Laubbläser.

Der Urmensch kannte sein Umfeld optisch genau. Seine Augen sahen. Sie sahen den Käfer im Busch und die Beere am Strauch, sie sahen die Regenwolken und den ersten Tropfen. Der Urmensch konnte jede Tages- und jede Jahreszeit mit seinen Augen bestimmen, er sah an den kleinsten Veränderungen, ob es Mai wurde oder September. Seine Augen sahen das erste Blatt im Herbst fallen und die erste Primel wachsen, sie sahen das Licht sich im Sommer verändern und bemerkten auch die winzigsten ersten Schneeflocken.

Vielleicht sollten wir wieder sehen lernen.
Und vielleicht verschwänden dann die Sylvesterknaller und Piep-piep-piep-Timer, die Grillgeräusche und Sommerpartys, verschwänden und alle weiteren Lärmbelästigungen.

Und natürlich auch die Laubbläser.



 

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