Der Mann,
der vor mir steht, ist schön. Nein, er ist nicht nur schön, er ist mehr, er ist
bildhübsch, er ist ein Adonis. Seine hellen und klaren Augen lachen aus einem
angenehm gebräunten Gesicht, das wunderbare Grübchen zeigt und unter dichtem,
kurzgeschorenem graumeliertem Haar liegt. Der Mann ist schlank und sportlich,
seinen tollen Körper hat er elegant bekleidet, er trägt ein blau-weiss
kariertes Hemd und passende azurfarbene Shorts. Einfach grossartig.
Ich möchte
mehr sehen. «Zieh dich aus!», flüstere ich zu ihm. Und tatsächlich: Er beginnt,
seine Kleider abzustreifen. Was man jetzt zu sehen bekommt, verschlägt einem
die Sprache; er ist am ganzen Körper bronzefarben, aber nicht vom Solarium,
sondern von echter Sonne. Sein Körper ist muskulös und durchtrainiert, seine
Brustmuskeln zeigen den Schwimmer und sein Bauch ist flach, den Schwimmer
bemerkt man auch daran, dass er eine rote Badehose trägt. Seine Beine sind
kräftig und seine Hüften schmal.
Ich möchte
noch mehr sehen. «Auch die Badehose», flüstere ich. Er aber schüttelt den Kopf.
Nun gut, was man unter den Badepants ahnt, ist auch ganz gut.
Jetzt aber
ein Blick auf die Uhr: Es ist schon 9.35 – ich muss endlich von meinem Spiegel
weg.
«Puh!»,
schreit der Fromme, «das ist ja schrecklich! Eitelkeit! Eine der Sieben
Todsünden! Ein eitler Mensch lebt nicht gottgefällig, er ist lasterhaft und
hoffärtig, er erhebt sich, ist ichbezogen und eingebildet. Demut, das wäre das
Richtige, das wäre angemessen. Denn wie steht geschrieben: Und sie
verachteten seine Satzungen und seinen Bund, den er mit den Vätern gemacht, und
seine Zeugnisse, die er ihnen bezeugt hat; und sie wandelten der Eitelkeit nach
und handelten eitel (2. Könige 17, 15) und Alle aber seid gegenüber mit
Demut umhüllt, denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er
Gnade. (1. Petrus 5,5)»
«Puh!», ruft
der Sachbezogene, «so schön bist du auch nicht! Du bist nicht objektiv!
Objektivität ist das Gebot der Stunde! Du bist in deiner Selbstbetrachtung
einfach nur subjektiv. Objektiv gesehen sind deine Arme etwas zu dünn, deine
Beine auch und der Bauch ist zwar flach, aber du hast sicher kein Sixpack. Und
was ist das um deine Hüften? Das sind doch Ansätze von Schwimmringlein… Also,
auf einer objektiven Skala von 1 bis 10 bist du bei 6,45 – das ist für dein
Alter gar nicht schlecht, aber ein Adonis bist du nicht.»
«Puh»,
brüllt der Intellektuelle, «statt wie ein Gaffer vor dem polierten Glas zu
stehen, könntest du deine Zeit wirklich besser nutzen. Philosophisch musst du
weiterkommen, und literarisch und historisch, es ist völlig irrelevant, ob du
dich schön findest oder nicht. Spiegelgucken ist verlorene Zeit.» Er zerrt mich
vor mein Bücherregal und zieht Korrektur von Thomas Bernhard heraus: «Du
weisst sicher nicht mehr, was genau drinsteht – also nochmal lesen.»
Lieber
Frommer, wenn der Psalmist schreibt, er sei auf eine wunderbare und
erstaunliche Weise geschaffen (Stelle weiss ich nicht), ist das doch auch
sehr eitel, oder? Und wie ist das mit der Nächstenliebe und wie dich
selbst (Stelle weiss ich nicht)? Soll ich jetzt meinen Nächsten lieben –
und ihn auch schön finden – und mich selbst aber zwar lieben, aber hässlich
finden? Ist alles ein wenig unlogisch, gell?
Lieber
Sachbezogener, ja, du hast völlig Recht. Ich bin, was mich selbst angeht,
völlig subjektiv. Ich schätze meine Leistungen subjektiv ein und treffe
subjektiv meine Entscheidungen, ich habe ein subjektives Bild von mir und
beurteile meine Vergangenheit total subjektiv. Ich bin in meiner Subjektivität
gefangen wie ein Vogel im Käfig, wie die Maus in der Falle und die Fliege auf
dem Leim. Und so ist mein Bewunderungssturm vor dem Spiegel auch völlig
subjektiv.
Nur:
Das ist
normal, absolut normal. Ich kenne keinen Menschen, der, was ihn selber
betrifft, objektiv urteilen kann. Das ist ja nun mal das Wesen der Objektivität
und der Subjektivität.
Lieber
Intellektueller, es soll Leute geben, die morgens aufwachen und schon zum
Frühstück Aristoteles lesen, um dann den Tag in Bildung zu schwimmen und abends
mit einem Wort von Goethe im Kopf schlafen gehen. Ich gehöre nicht dazu. Einen
Teil meiner Zeit muss ich verplempern, vergeuden, nutzlos verschwenden.
Und zum
Thema Thomas Bernhard: Der grosse Literat besass wahrscheinlich mehr Schuhe als
Imelda Marcos, ist doch auch ein wenig eitel, oder?
Beim
Ausdemhausgehen winke ich dem schönen Mann noch einmal zu.
«Heute Abend
ziehst du dich ganz aus, nicht?» Er nickt.
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