Dienstag, 27. August 2019

Bitte keine Pilotversuche!


Mein Freund Urs verpasst oft den Bus. Er hat ausgerechnet, dass er von zuhause genau 1 Minute 35 Sekunden bis zur Haltestelle Muffstrasse der Linie 39 braucht, und er geht genau 1 Minute 35 Sekunden vor Abfahrt des Busses aus der Haustüre. Nun gibt es aber kleine Pannen, kleine Handbewegungen, kleine Notwendigkeiten, die in dieser Zeit nicht eingerechnet sind. Wenn es schüttet und er muss den Schirm aufspannen: Bus weg. Wenn ihm der Schuhbändel aufgeht und er muss ihn neu binden: Bus weg. Auch ein freundliches Wort zur netten Nachbarin kostet zu viel Zeit, ebenso das Ausweichen, wenn Frau Müller mit Pupsi Gassi geht. Urs hat nun einen Pilotversuch gestartet: Er wird in den nächsten Wochen 3 Minuten vor der Abfahrt des 39ers aus dem Hause gehen.

Meine Bekannte Lina lädt gerne Leute zum Essen ein. Nun ist es manchmal schwierig, alle Freundinnen und Freunde unter einen Hut zu bringen, denn Bernd ist Vegetarier, ebenso Lola und Ruth, dagegen haben Fritz, Rudi, Sina und Michaela gerne etwas Fleischiges auf dem Teller. Bei bestimmten Essen kann sie also die ersten drei nicht einladen (zum Beispiel zu ihren unvergleichlichen Saltimboccas oder zu ihrem fantastischen Lammbraten), bei anderen Essen (Fenchelauflauf mit Broccolisauce) kommen die letzen vier nicht so gerne. Lina hat nun einen Pilotversuch gestartet, bei dem sie bei allen Essen eine vegetarische und eine und eine nichtvegetarische Version anbietet, hier eignen sich z.B. Spaghetti (Napoli UND Bolognese) oder Pizza.

Auch Marko und Mirko haben Pilotversuche gestartet, bei ihnen geht es darum, frischer und fröhlicher, fitter und freudiger in den Tag zu kommen. Marko wird jeden Morgen seinen Hinterkopf viermal gegen die Wand hauen und Mirko wird seine Schlummer-Whiskey-Menge von vier Gläsern auf ein Glas reduzieren.

Schauen wir nun einmal die Zwischenergebnisse der Pilotversuche an:

* Urs hat festgestellt, dass er pünktlicher wird, auch kleinere Zwischendinge wirken sich nicht mehr so verheerend auf seine Zeitbilanz aus, seine Bus-Erreichungs-Quote ist von 47,82% auf sagenhafte 96,34% gestiegen!

*  Lina hat zweimal alle ihre Freundinnen und Freunde an einen Tisch bekommen, und alle haben zwei wunderbare, schöne und genussreiche Abende verbracht. Bernd, Lola und Ruth hat es nichts ausgemacht, dass es auch Pizza mit Schinken und Spaghetti Bolognese gab, ebenso konnten Fritz, Rudi, Sina und Michaela mit parallel gereichter Pizza mit Gemüse und Sauce Napoli leben. 

*  Und unsere beiden Morgenmuffel? Marko beginnt den Tag mit Schrammen und Kopfschmerzen und ist keinen Deut wacher, Mirko beginnt den Tag leichter und beschwingter, weil der eine Whiskey schon abgebaut ist.

So weit so gut.
Aber – mal ganz, ganz, ganz ehrlich, mal sehr, sehr, sehr naiv gefragt – hätte es dafür Pilotversuche gebraucht? Hätte man nicht jedes 7jährige Kind auf der Strasse fragen können, und es hätte «früher losgehen», «2 Saucen», «keine Schläge» und «weniger saufen» geantwortet? Hätte nicht der oft zitierte, viel beschworene und heiss geliebte GESUNDE MENSCHENVERSTAND genügt?

Aber wir haben halt Spass an Pilotversuchen. Ein Jahr lang hat die SBB an den Bahnhöfen drei Modelle getestet:
·         * weiter überall rauchen, wo man mag
·         * der ganze Bahnhof total rauchfrei
·         * im Prinzip rauchfrei, aber gezielte Raucherbereiche
Und nun hat man das Modell 3 eingeführt, was niemand wundert, denn es wird allen Interessen gerecht. Auch dies hätte der Gesunde Menschenverstand und jedes 7jährige Kind schon vor 12 Monaten und 365 Tagen sagen können. Zudem hätte man einfach auch über die Grenze blicken können, bei der DB wird das seit Jahren so gemacht.

Ganz heiss ist ein Pilotversuch in meinem Quartier: Die Müllsäcke sollen nicht mehr vor dem Hause abgeholt werden, sondern der Mist zu zentralen Containern gebracht werden, eine Parforceleistung für Senioren und Gehbehinderte. Dies ist deshalb auch so heikel, weil die Basler Bevölkerung dieses Ich-entsorge-meinen-Abfall-selber-Modell in einer Abstimmung 2015 mit fast 70% abgelehnt hat.
Aber Pilotversuche kann man scheints immer starten, so nach dem Motto: «Ich weiss, du bist dagegen, aber probiere doch mal…»

Hören wir auf mit Pilotversuchen!
Denken wir lieber nach!

Oder fragen wir 7jährige Kinder…

Ich habe die Idee eines Pilotversuches, der im Rahmen der Rettung bedrohter Sprachen die Dienstag-Freitag-Glosse einmal im Monat z.B. auf Kaschubisch oder Absarokee erscheinen lassen sollte, auch wieder verworfen.  

    



 

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