Mein Freund
Urs verpasst oft den Bus. Er hat ausgerechnet, dass er von zuhause genau 1
Minute 35 Sekunden bis zur Haltestelle Muffstrasse der Linie 39 braucht, und er
geht genau 1 Minute 35 Sekunden vor Abfahrt des Busses aus der Haustüre. Nun
gibt es aber kleine Pannen, kleine Handbewegungen, kleine Notwendigkeiten, die
in dieser Zeit nicht eingerechnet sind. Wenn es schüttet und er muss den Schirm
aufspannen: Bus weg. Wenn ihm der Schuhbändel aufgeht und er muss ihn neu
binden: Bus weg. Auch ein freundliches Wort zur netten Nachbarin kostet zu viel
Zeit, ebenso das Ausweichen, wenn Frau Müller mit Pupsi Gassi geht. Urs hat nun
einen Pilotversuch gestartet: Er wird in den nächsten Wochen 3 Minuten vor der
Abfahrt des 39ers aus dem Hause gehen.
Meine
Bekannte Lina lädt gerne Leute zum Essen ein. Nun ist es manchmal schwierig,
alle Freundinnen und Freunde unter einen Hut zu bringen, denn Bernd ist
Vegetarier, ebenso Lola und Ruth, dagegen haben Fritz, Rudi, Sina und Michaela
gerne etwas Fleischiges auf dem Teller. Bei bestimmten Essen kann sie also die
ersten drei nicht einladen (zum Beispiel zu ihren unvergleichlichen
Saltimboccas oder zu ihrem fantastischen Lammbraten), bei anderen Essen
(Fenchelauflauf mit Broccolisauce) kommen die letzen vier nicht so gerne. Lina
hat nun einen Pilotversuch gestartet, bei dem sie bei allen Essen eine
vegetarische und eine und eine nichtvegetarische Version anbietet, hier eignen
sich z.B. Spaghetti (Napoli UND Bolognese) oder Pizza.
Auch Marko
und Mirko haben Pilotversuche gestartet, bei ihnen geht es darum, frischer und
fröhlicher, fitter und freudiger in den Tag zu kommen. Marko wird jeden Morgen
seinen Hinterkopf viermal gegen die Wand hauen und Mirko wird seine
Schlummer-Whiskey-Menge von vier Gläsern auf ein Glas reduzieren.
Schauen wir
nun einmal die Zwischenergebnisse der Pilotversuche an:
* Urs hat
festgestellt, dass er pünktlicher wird, auch kleinere Zwischendinge wirken sich
nicht mehr so verheerend auf seine Zeitbilanz aus, seine Bus-Erreichungs-Quote
ist von 47,82% auf sagenhafte 96,34% gestiegen!
* Lina hat zweimal alle ihre Freundinnen und
Freunde an einen Tisch bekommen, und alle haben zwei wunderbare, schöne und
genussreiche Abende verbracht. Bernd, Lola und Ruth hat es nichts ausgemacht,
dass es auch Pizza mit Schinken und Spaghetti Bolognese gab, ebenso konnten
Fritz, Rudi, Sina und Michaela mit parallel gereichter Pizza mit Gemüse und Sauce
Napoli leben.
* Und unsere beiden Morgenmuffel? Marko beginnt
den Tag mit Schrammen und Kopfschmerzen und ist keinen Deut wacher, Mirko
beginnt den Tag leichter und beschwingter, weil der eine Whiskey schon abgebaut
ist.
So weit so
gut.
Aber – mal
ganz, ganz, ganz ehrlich, mal sehr, sehr, sehr naiv gefragt – hätte es dafür
Pilotversuche gebraucht? Hätte man nicht jedes 7jährige Kind auf der Strasse
fragen können, und es hätte «früher losgehen», «2 Saucen», «keine Schläge» und
«weniger saufen» geantwortet? Hätte nicht der oft zitierte, viel beschworene
und heiss geliebte GESUNDE MENSCHENVERSTAND genügt?
Aber wir
haben halt Spass an Pilotversuchen. Ein Jahr lang hat die SBB an den Bahnhöfen
drei Modelle getestet:
· * weiter überall rauchen, wo man mag
·
* der ganze Bahnhof total rauchfrei
·
* im Prinzip rauchfrei, aber gezielte
Raucherbereiche
Und nun hat
man das Modell 3 eingeführt, was niemand wundert, denn es wird allen Interessen
gerecht. Auch dies hätte der Gesunde Menschenverstand und jedes 7jährige Kind
schon vor 12 Monaten und 365 Tagen sagen können. Zudem hätte man einfach auch
über die Grenze blicken können, bei der DB wird das seit Jahren so gemacht.
Ganz heiss
ist ein Pilotversuch in meinem Quartier: Die Müllsäcke sollen nicht mehr vor
dem Hause abgeholt werden, sondern der Mist zu zentralen Containern gebracht
werden, eine Parforceleistung für Senioren und Gehbehinderte. Dies ist deshalb auch
so heikel, weil die Basler Bevölkerung dieses
Ich-entsorge-meinen-Abfall-selber-Modell in einer Abstimmung 2015 mit fast 70%
abgelehnt hat.
Aber
Pilotversuche kann man scheints immer starten, so nach dem Motto: «Ich weiss,
du bist dagegen, aber probiere doch mal…»
Hören wir
auf mit Pilotversuchen!
Denken wir
lieber nach!
Oder fragen
wir 7jährige Kinder…
Ich habe die
Idee eines Pilotversuches, der im Rahmen der Rettung bedrohter Sprachen die
Dienstag-Freitag-Glosse einmal im Monat z.B. auf Kaschubisch oder Absarokee
erscheinen lassen sollte, auch wieder verworfen.
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