Ich habe
meinem Lieblingsneffen Tobi die Sache mit Petrarca und dem Mont Ventoux
erklärt, also die berühmte Story, wie der Italiener in der Provence auf jenen
Berg stieg und von der Schönheit und Pracht der Erde, von der Weite der
Existenz und der Weite des Blicks so überwältigt wurde, dass er ins Schreiben
und Schwärmen kam, dieses Mont Ventoux- Erlebnis gilt ja quasi als eine der
Initialzündungen der Renaissance. Tobi hat geduldig zugehört, dann nickt er ein
paar Mal und stellt eine simple Frage:
«Warum ist
der Petrarca da raufgestiegen?»
«Na», sage
ich, «wahrscheinlich um von der Aussicht überwältigt zu werden.» «Das ist
Quatsch, Onkel Rolf, er wusste ja vorher überhaupt nicht, wie schön der Blick
sein wird und er wusste überhaupt nicht, dass ihn das überwältigen würde, also,
warum ist er da rauf?» Ich grinse: «Er ging dort hinauf, um die Renaissance
einzuläuten.» Tobi ist nicht in Nonsenslaune: «Onkel Rooooooooooolf, jetzt
blödelst du, nein, ernsthaft, warum ging er rauf?»
Ich habe
meiner Lieblingsnichte Gabi die Sache mit Newton und dem Apfelfall erklärt,
also die berühmte Story, wie der Engländer sich zum Schlafen unter einen
Apfelbaum gelegt hatte und der Boskop ihm auf die Birne fiel und er anfing über
den Grund, warum Dinge herunterfallen, nachzudenken und auf das Gesetz der
Schwerkraft kam, dieses Apfel-Erlebnis gilt ja quasi als eine der
Initialzündungen der modernen Physik. Gabi hat geduldig zugehört, dann nickt sie
ein paar Mal und stellt eine simple Frage:
«Warum hat
sich Isaac Newton unter den Baum gelegt?»
«Na», sage
ich, «wahrscheinlich um den Apfel fallen zu sehen.» «Das ist Quatsch, Onkel
Rolf, er wusste ja vorher überhaupt nicht, dass der Apfel fällt und er sich
dann Gedanken machen wird, wie die Schwerkraft funktioniert, also warum hat er
sich hingelegt?» Ich grinse: «Er legte sich unter den Baum, um eine neue Phase
der Physik einzuläuten.» Gabi ist nicht in Nonsenslaune: «Onkel Rooooooooooolf,
jetzt blödelst du, nein, ernsthaft, warum?»
Wir wissen
es nicht.
Wir wissen
nicht, warum sich Petrarca auf den Berg begeben hat und warum sich Newton unter
den Baum gelegt hat. Vielleicht hatte sein Hausarzt dem guten Francesco ein
wenig Bewegung verordnet, vielleicht hatte er eine Wette verloren, vielleicht
hatte er einfach Lust auf die Wanderung, wir wissen nicht, warum sich Newton
unter den Baum gelegt hat, vielleicht war er einfach müde, vielleicht wollte
der gute Isaac meditieren, vielleicht hatte er einfach Lust darauf.
Wir wissen
es nicht.
Und das ist
auch gar nicht schlimm.
Das Schlimme
ist, dass wir im Nachhinein so tun, als ob die Betreffenden schon eine Ahnung
gehabt hätten, als ob Petrarca gesagt hätte: «Leute, klettern wir doch auf den
Mont Ventoux und läuten die Renaissance ein…» oder Newton gemeint hätte, er
lege sich jetzt unter den Baum und entdecke etwas Grosses.
Wir hätten
so gerne Stringenz, wir hätten so gerne Logik und Kausalität in der Geschichte.
Und die gibt es eben nicht.
Seien wir
ehrlich: 95% unserer Handlungen sind planlos, unüberlegt, sind nach dem
Lustprinzip veranstaltet und nur der Spontanität geschuldet, nur 5% unserer
Taten sind sinnvoll. Im Nachhinein beladen wir dann unsere Aktionen mit
irgendeinem Sinn, wir vertauschen Grund und Ergebnis.
Waren Tobi
und Gabi Wunschkinder? Natürlich haben ihre Eltern ihnen das gesagt. Ich aber
weiss es besser, im ersten Fall hatte man die Kondomverpackung mit den Zähnen
aufgemacht – etwas, was man niemals, niemals, niemals und gar nie tun sollte –
im zweiten Fall war es ein völlig verregneter Urlaub auf den Kanaren, eine
Woche voller Wasser und Gewitter, eine Woche, in der einem nichts anderes zu
tun blieb, als im Bett zu bleiben.
(Natürlich
werde ich das meinem Lieblingsneffen und meiner Lieblingsnichte nie erzählen.)
Nicht
umsonst gibt es im Deutschen die schöne Wendung «Ich kam zum Film/zur Bühne/zur
Musik/zum Schreiben/zum Sport/zur Physik/zur Biologie… WIE DIE JUNGFRAU ZUM
KIND.» Wir alle hätten gerne so einen roten Faden in unserem Dasein, dabei ist
fast alles Zufall.
Erst im
Nachhinein verleihen wir Bedeutung.
Ich habe
übrigens nun noch einmal gründlich recherchiert:
Francesco
Petrarca hatte schlicht und einfach eine Pauschalreise gebucht, bei der die
Besteigung des Mont Ventoux mit zum Programm gehörte.
Isaac Newton
hatte einen Hexenschuss, der ihn in die Horizontale zwang.
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