Dienstag, 5. März 2019

Warum stieg Petrarca auf den Berg?


Ich habe meinem Lieblingsneffen Tobi die Sache mit Petrarca und dem Mont Ventoux erklärt, also die berühmte Story, wie der Italiener in der Provence auf jenen Berg stieg und von der Schönheit und Pracht der Erde, von der Weite der Existenz und der Weite des Blicks so überwältigt wurde, dass er ins Schreiben und Schwärmen kam, dieses Mont Ventoux- Erlebnis gilt ja quasi als eine der Initialzündungen der Renaissance. Tobi hat geduldig zugehört, dann nickt er ein paar Mal und stellt eine simple Frage:
«Warum ist der Petrarca da raufgestiegen?»
«Na», sage ich, «wahrscheinlich um von der Aussicht überwältigt zu werden.» «Das ist Quatsch, Onkel Rolf, er wusste ja vorher überhaupt nicht, wie schön der Blick sein wird und er wusste überhaupt nicht, dass ihn das überwältigen würde, also, warum ist er da rauf?» Ich grinse: «Er ging dort hinauf, um die Renaissance einzuläuten.» Tobi ist nicht in Nonsenslaune: «Onkel Rooooooooooolf, jetzt blödelst du, nein, ernsthaft, warum ging er rauf?»

Ich habe meiner Lieblingsnichte Gabi die Sache mit Newton und dem Apfelfall erklärt, also die berühmte Story, wie der Engländer sich zum Schlafen unter einen Apfelbaum gelegt hatte und der Boskop ihm auf die Birne fiel und er anfing über den Grund, warum Dinge herunterfallen, nachzudenken und auf das Gesetz der Schwerkraft kam, dieses Apfel-Erlebnis gilt ja quasi als eine der Initialzündungen der modernen Physik. Gabi hat geduldig zugehört, dann nickt sie ein paar Mal und stellt eine simple Frage:
«Warum hat sich Isaac Newton unter den Baum gelegt?»
«Na», sage ich, «wahrscheinlich um den Apfel fallen zu sehen.» «Das ist Quatsch, Onkel Rolf, er wusste ja vorher überhaupt nicht, dass der Apfel fällt und er sich dann Gedanken machen wird, wie die Schwerkraft funktioniert, also warum hat er sich hingelegt?» Ich grinse: «Er legte sich unter den Baum, um eine neue Phase der Physik einzuläuten.» Gabi ist nicht in Nonsenslaune: «Onkel Rooooooooooolf, jetzt blödelst du, nein, ernsthaft, warum?»

Wir wissen es nicht.
Wir wissen nicht, warum sich Petrarca auf den Berg begeben hat und warum sich Newton unter den Baum gelegt hat. Vielleicht hatte sein Hausarzt dem guten Francesco ein wenig Bewegung verordnet, vielleicht hatte er eine Wette verloren, vielleicht hatte er einfach Lust auf die Wanderung, wir wissen nicht, warum sich Newton unter den Baum gelegt hat, vielleicht war er einfach müde, vielleicht wollte der gute Isaac meditieren, vielleicht hatte er einfach Lust darauf.
Wir wissen es nicht.

Und das ist auch gar nicht schlimm.
Das Schlimme ist, dass wir im Nachhinein so tun, als ob die Betreffenden schon eine Ahnung gehabt hätten, als ob Petrarca gesagt hätte: «Leute, klettern wir doch auf den Mont Ventoux und läuten die Renaissance ein…» oder Newton gemeint hätte, er lege sich jetzt unter den Baum und entdecke etwas Grosses.
Wir hätten so gerne Stringenz, wir hätten so gerne Logik und Kausalität in der Geschichte. Und die gibt es eben nicht.

Seien wir ehrlich: 95% unserer Handlungen sind planlos, unüberlegt, sind nach dem Lustprinzip veranstaltet und nur der Spontanität geschuldet, nur 5% unserer Taten sind sinnvoll. Im Nachhinein beladen wir dann unsere Aktionen mit irgendeinem Sinn, wir vertauschen Grund und Ergebnis.

Waren Tobi und Gabi Wunschkinder? Natürlich haben ihre Eltern ihnen das gesagt. Ich aber weiss es besser, im ersten Fall hatte man die Kondomverpackung mit den Zähnen aufgemacht – etwas, was man niemals, niemals, niemals und gar nie tun sollte – im zweiten Fall war es ein völlig verregneter Urlaub auf den Kanaren, eine Woche voller Wasser und Gewitter, eine Woche, in der einem nichts anderes zu tun blieb, als im Bett zu bleiben.
(Natürlich werde ich das meinem Lieblingsneffen und meiner Lieblingsnichte nie erzählen.)
Nicht umsonst gibt es im Deutschen die schöne Wendung «Ich kam zum Film/zur Bühne/zur Musik/zum Schreiben/zum Sport/zur Physik/zur Biologie… WIE DIE JUNGFRAU ZUM KIND.» Wir alle hätten gerne so einen roten Faden in unserem Dasein, dabei ist fast alles Zufall.
Erst im Nachhinein verleihen wir Bedeutung.

Ich habe übrigens nun noch einmal gründlich recherchiert:
Francesco Petrarca hatte schlicht und einfach eine Pauschalreise gebucht, bei der die Besteigung des Mont Ventoux mit zum Programm gehörte.
Isaac Newton hatte einen Hexenschuss, der ihn in die Horizontale zwang.





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