Freitag, 28. September 2018

Special Persönlichkeit (6): Das Unwort Charisma


Immer wieder wird bemängelt, dass die Schweizer Politiker im Ausland so einen schlechten Eindruck machen. Sie würden, im Vergleich zu den routinierten Kollegen aus Deutschland, Frankreich oder den USA wie Winzer aus dem Wallis, Bauern aus dem Aargau oder Schreiner aus Graubünden wirken, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie wirklich Winzer aus dem Wallis, Bauern aus dem Aargau oder Schreiner aus Graubünden sind. Durch die spezielle Struktur der Volksdemokratie hat sich in der Eidgenossenschaft eine Politikspezies herausgebildet, die gegen viele Volksvertreter aus der EU oder Übersee nicht anstinken kann, man sagt also immer wieder, Schweizer Politiker – und jetzt kommt dieses überaus schreckliche Wort – hätten kein Charisma.
Und meine ständige Antwort ist, dass ich sehr, sehr, sehr froh bin, dass Schneider-Amann, Maurer und Leuthard eben kein Charisma haben.

Charisma.
Ein furchtbarer Begriff.
Einer der Politiker mit dem grössten Charisma war sicher jener, der es schaffte, einen Saal mit über 1000 Leuten davon zu überzeugen, dass es jetzt notwendig ist, auf solche Lappalien wie unzerstörte Häuser, Sattheit, Gesundheit, wie Leben der Angehörigen und warme Stuben, dass es notwendig ist auf so Lächerlichkeiten wie Unversehrtheit und Hab und Gut zu verzichten. Und es gelang ihm, mit seinem überwältigenden Charisma rief er den Leuten den berühmten Satz vom Totalen Krieg entgegen und das Volk schrie, hingerissen von seinem Charisma «Ja!»
Ja, Goebbels hatte Charisma. Wie übrigens auch Lenin, Stalin und Mao, wie sämtliche Diktatoren und Demagogen des 20. Jahrhunderts. Dschingis-Khan hatte Charisma und Attila der Hunne hatte Charisma, weder Napoleon noch Gustav Adolf von Schweden konnte ein Mangel an Charisma nachgesagt werden.

Gut seien wir ehrlich: Auch Gandhi hatte es, Martin Luther King und Willy Brandt, Henri Dunant und Berta von Suttner, Albert Schweitzer verfügte sicher über Charisma und auch Mutter Theresa konnte ihre Arbeit in Kalkutta nur mit einer gewissen Portion Charisma erledigen.
Es kommt eben wahrscheinlich nicht darauf an Charisma zu haben, sondern darauf, was man mit seinem Charisma macht.

Wenn Sie eine Pfadi-Gruppe leiten und bemerken bei einer Bergwanderung, dass sich ein Unwetter zusammenbraut, die nächste Hütte zwei Stunden weg ist und ausserdem noch 400 Höhenmeter zu schaffen sind, was rufen Sie den Jugendlichen zu? «Los, Jungs, das schaffen wir, bergwärts voran!» oder «Stopp, Leute wir drehen um!»?
Wenn Sie eine Chordirigentin sind, deren Ensemble die H-Moll-Messe garantiert nicht hinbekommen wird, steuern Sie dann dennoch den Chor in ein Konzert mit der Missa BWV 232, weil Sie Charisma haben oder lassen Sie Vernunft walten und singen die Krönungsmesse?

Es ist entscheidend, welche Idee, welche Gesinnung, es ist wichtig, welche Haltung sich mit einem Charisma verbindet. Oder anders formuliert: Charisma ohne Ethos ist (s.v.v.) Scheisse. Das vom Ethos beflügelte Charisma ruft den Leuten «I have a dream!», «Mehr Demokratie wagen!» oder «Schwerter zu Pflugscharen» zu, das vom Unethos vergiftete eben «Wollt ihr den totalen Krieg?»

Eine Form von Charisma haben wir noch vergessen: Nämlich die, bei der hinter dem Charisma gar nichts steht; wahrscheinlich ist sie sogar die am meisten verbreitete.
Da steht ein CEO am Rednerpult, gut gedresst in BOSS oder Armani, gut fri- und rasiert, er redet frei und mit Schwung, Charisma umgibt ihn wie eine Aura und hinter ihm funkelt die absolut perfekt gemachte Powerpoint. Und wenn er dann nach 20 Minuten vom Pult zur Seite tritt, dann hält es uns nicht auf den Sitzen, wir springen auf und klatschen frenetisch.
Erst später, beim Apéro Riche im Foyer kommen uns die leisen Fragen: Was hat er (so gut beBOSSt, gut frisiert, gut rasiert, mit einer so tollen PPT und mit so viel Charisma) eigentlich gesagt? Dass die GRIMIXAG® Gewinn machen soll? Ganz ‘was Neues. Dass die GRIMIXAG® gute Produkte herstellt? Wussten wir schon. Dass die GRIMIXAG®-Aktie eine super Anlage ist? Na, sonst hätten wir keine…

Diese Art von hohlem, inhaltsvermissendem, von leerem und schwafelndem Charisma, wir könnten es auch Vakuum- Charisma nennen, treffen wir in praktisch allen Teppich-Etagen der grossen Firmen und – leider, leider, leider – inzwischen auch bei Politikern. In der BRD gibt es dafür ein berühmtes Beispiel: Martin Schulz. Sein Charisma zog Tausende in die SPD, bis man merkte, dass dem Charisma eben ein Programm fehlte.

Immer wieder wird bekrittelt, dass Schweizer Politiker im Ausland so einen schlechten Eindruck machen. Sie würden wie Winzer aus dem Wallis, Schweinemäster aus dem Appenzell oder Bäcker aus dem Waadtland wirken, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie wirklich Winzer aus dem Wallis, Schweinemäster aus dem Appenzell oder Bäcker aus dem Waadtland sind.
Schweizer Politiker – so sagt man immer wieder – hätten kein Charisma.
Und meine ständige Antwort ist, dass ich sehr, sehr, sehr froh bin, dass Schneider-Amann, Maurer und Leuthard eben kein Charisma haben.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen