Donnerstag, 27. September 2018

Der Parcour am Samstagmorgen oder: Alle Räder sollten stillstehen


Samstag, 15. September 2018

8.30
Ich bin seit einer Stunde wach, ich habe meinen ersten Kaffee getrunken und meine erste Zigarette geraucht. Es ist schönes Wetter und ich beschliesse, zum Bäcker zu gehen und Brötchen zu holen. Das könnte vielleicht ein Fehler sein, man weiss, welche Gefahren draussen auf einen lauern, welchen anderen Verkehrsteilnehmern man sich gegenübersieht, aber ich werde es wagen und die frischen Weggli werden meine Belohnung sein.

8.40
Ich trete aus der Haustüre und kann gerade noch wieder ruckartig in den Hauseingang zurückspringen, weil zwei Teenager mit langem Wuschelhaar und wüstem Geschrei auf dem Trottoir entlangrasen, natürlich auf diesen unsäglichen Skateboards; ich schreie ihnen eine Verwünschung hinterher, die ihrem Outfit angepasst ist, atme tief durch und starte einen zweiten Versuch.

8.42
Ich trete aus der Haustüre und kann gerade noch wieder ruckartig in den Hauseingang zurückspringen, weil ein Mittdreissiger auf Inlinern entlangrauscht, da er Kopfhörer aufhat, muss ich auf gar nicht probieren, ihm eine Verwünschung hinterherzuschreien.

8.50
Geschafft! Ich bin drei Häuser weiter bis zur Residenz St. Tipotus gekommen. Die Pforte öffnet sich und ich kann gerade noch stoppen, um nicht in eine Horde Rentner hineinzurennen. Sie schieben ihre Rollatoren wie wildgewordene Stiere aus dem Haus und grölen «Born to be wiiiiiiiilllllllllllllld! Damm! Damm!» Was ist nur aus der Generation Ü80 geworden?

9.02
Geschafft! Ich bin vier Häuser weiter bis zu den beiden Kinderkrippen «Haselmäuschen» und «Blütenwiese» gekommen. Die Pforte öffnet sich und ich kann gerade noch stoppen, um nicht in eine Kolonne aus 14 Kinderwagen hineinzurennen. Die Fachkräfte Betreuung Kleinkind schieben ihre ganze Meute auf die Strasse und singen dabei fröhlich «Und die Katze tanzt allein, tanzt allein auf einem Bein.»

9.25
Inzwischen bin ich eine Dreiviertelstunde unterwegs, und ich bin jetzt erst, nach den Attacken durch Skater, Inliner, wildgewordene Rentner und wildgewordene Kleinkinderzieher, an dem Punkt, an dem die eigentliche Schwierigkeit besteht: Das Überqueren der Strasse, denn auf der anderen Seite befindet sich das Café Meier-Schmuss, in dem es die besten Brötchen und die besten Gipfeli im Quartier gibt.

9.26
Den ersten Strassen-Transvers-Versuch muss ich sofort beenden, weil eine Stadtrundfahrt vorbeizockelt, die Stadtrundfahrten werden ja neuerdings auf diesen bescheuerten Fahrzeugen gemacht, auf denen man steht und mit dem Hebel irgendwie die Geschwindigkeit beeinflusst. Die Teilnehmer winken mir fröhlich zu, so unter dem Motto «guckt mal, ein Einheimischer, der gerade sein Frühstück holt.» Ich zeige ihnen den Stinkefinger.

9.35
Ich liege auf dem Boden, weil mich ein Velokurier mit dem herausgequetscht-herausgeschrienen Hinweis «Bahnhof – Abholen – in 3 Minuten – Sorry» einfach zur Seite geboxt hat. Als ich mich mühsam wiederaufgerappelt habe, merke ich, dass ich immerhin bis zum Mittelstreifen vorgedrungen bin.

9.37
Ein Auto kommt von rechts herangebraust, ich befürchte das Schlimmste, aber das Auto hält! Der Fahrer lächelt mich an und winkt mich vorbei! Wieder auf dem Trottoir muss ich nur noch einem Jogger in aggressivlilafarbenem Dress ausweichen und…
GESCHAFFT!

9.40
Eine Stunde nachdem ich das Haus verlassen habe, sitze ich im Café Meier-Schmuss und trinke einen Espresso. Ich habe den Heute-Kaufen-Wir-Brötchen-Gedanken fallengelassen und stattdessen das «Grosse Schlemmerfrühstück» bestellt.
Mein Blick fällt auf diverse Schlagzeilen der Tageszeitungen:
«100 neue Krippenplätze im nächsten Jahr», «PRO RENTNER startet die Aktion MOBIL IM ALTER»
«Street Sport – so gesund sind Skaten, Inlinern und Joggen», «Velokurierbranche im Aufwind» und «Stadt genehmigt neue Stadtrundfahrten»

Ich beschliesse, das Café Meier-Schmuss einfach nicht mehr zu verlassen und bis zum Jüngsten Gericht zu frühstücken.






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