Freitag, 14. September 2018

Special Persönlichkeit (2): Authentisch?


«Onkel Rolf», sagt mein Grossneffe Matthias im Eiscafé zu mir, «Onkel Rolf, was bedeutet das Wort authentisch? Das bedeutet, das man sich schlecht benimmt, gell?» Ich schaue den achtjährigen strubbelblonden Kerl verdutzt an: «Nein, sicher nicht, wie kommst du da drauf?» «Na ja, der Johan in meiner Klasse, der furzt und rülpst im Unterricht, und natürlich bekommt er dann jedes Mal eine Strafe, aber neulich habe ich gehört, wie Frau Müller, unsere Klassenlehrerin, zu Herrn Pfeifer, unserem Biolehrer sagte, Johan sei halt sehr authentisch.» «Matthias», sage ich, «man kann auch authentisch sein und sich gut benehmen, authentisch heisst, dass man sich nicht verstellt.»

Ein paar Tage später ruft Matthias mich auf dem Handy an: «Onkel Rolf, Onkel Rolf, jetzt weiss ich was authentisch bedeutet, es bedeutet, dass man schlecht in Rechtschreibung ist.» Wiederum muss ich widersprechen. Matthias aber beharrt: «Du, die Lisa in meiner Klasse, die hat einen Aufsatz zurückbekommen, und der war ganz rot, weil sie Verständnis mit F und hören mit öh und letzte mit ts und sprechen mit ä geschrieben hatte, und Frau Müller hatte daruntergeschrieben: «Sehr authentischer Schreibstil.» «Nein, Matthias», sage ich, «das war entweder ironisch gemeint oder Sie meinte, dass obwohl Lisa so schlechtes Deutsch kann, der Aufsatz etwas ganz Eigenes ist.»

Aber hier kommen mir schon Zweifel: Hat die gute Frau Müller nicht doch sagen wollen, dass das Mädchen so authentisch ist, weil sie nicht verstellt, weil eben bei einer Legasthenikerin die Legasthenie zur Authentizität gehört?

Authentisch

Eines der dümmsten Wörter, die Sprache in den letzten Jahren befördert hat.
Finden wir es wirklich klasse, wenn einer so ist, wie er ist? Unverstellt und pur, rein er selbst, nicht verschraubt und unverändert?

Man stelle sich vor, ein Tenor knödelt von Hause aus. Er knödelt seit seiner Pubertät und er knödelt laut und mit Inbrunst. Und was machen wir? Wir geben so Blödsinn von uns wie «Er hat eine authentische Stimme.» Das mag zwar seine unverstellte und pure Stimme sein, aber wenn diese unverfälschte und echte Stimme eben klingt wie ein rostiger Blechnapf, dann wäre es doch besser er ändert etwas daran, ist dann halt kein authentischer Sänger mehr, aber dafür ein guter Tenor?

Oder man stelle sich vor, man sitzt in einem Park und auf einmal wird man angepöbelt, gestossen, wird man getreten oder gebissen, geschlagen oder angespuckt. Normale Menschen wehren sich. Oder holen die Polizei. Oder schauen, dass der Pöbler, Stosser, der Treter oder Beisser, der Schläger oder Spucker in eine gute psychiatrische Behandlung kommt. Es gibt aber auch wirklich Zeitgenossen, die den Schweinehund damit entschuldigen, dass er eben authentisch sei und sehr authentische Schläge und Bisse, sehr authentische Tritte und Schubse austeile.

Man könnte ein ganzes Wörterbuch zusammenstellen:
Restaurant mit authentischer philippinischer Küche: Ungeniessbarer Frass.
Der authentische Malstil des Künstlers: Geschmier.
Sein Dialekt ist sehr authentisch: Niemand versteht ihn auch nur ansatzweise.
Authentischer Fahrstil: 45 Punkte in Flensburg und keinen Führerschein mehr.
Authentische Wohnungseinrichtung: Selbstgebasteltes und Abgeschmacktes Mobiliar.
usw.
usw.

Nein.
Hören wir doch bitte damit auf, authentisch sein zu wollen.
Ein wenig Verstellung tut allen gut. Der Ort nämlich, an dem man sich im 18. Jahrhundert am meisten verstellte, war der Hof. Die Adligen in Versailles waren alles andere als authentisch. Wären sie authentisch gewesen, wären sie nicht lange im Schloss geblieben, man hätte sie in die finstere Provinz, nach Lille oder Nîmes, nach Perpignan oder Brest verbannt, oder Louis XIII, Louis XIV oder Louis XV hätten gleich die Henker bestellt. Am Hof (in Versailles, aber auch in Potsdam oder Wien, in Aranjuez oder Dresden) war man nicht authentisch, sondern höf-lich, daher kommt das nämlich.

Gestern besuchte ich eine Schultheater-Aufführung, in der mein Grossneffe einen Postboten spielte. Und ich war sehr froh, dass er nicht authentisch war. Er schaffte es, die Bühne ohne Stolpern zu betreten, er sprach ohne Stammeln und ohne Aussetzer, er verhedderte sich nicht in seinem Kostüm und vergass auch nicht die Briefe in der Requisite. Obwohl das alles sehr authentisch gewesen wäre. Ich hätte es nicht ertragen, wenn die Leiterin der Theater-AG zu ihm «Du warst sehr authentisch» gesagt hätte.
Matthias hätte übrigens dann mit einem «Fick dich!» geantwortet.
Was auch wieder sehr authentisch gewesen wäre.
Aber un-höf-lich.


   


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