«Onkel
Rolf», sagt mein Grossneffe Matthias im Eiscafé zu mir, «Onkel Rolf, was
bedeutet das Wort authentisch? Das
bedeutet, das man sich schlecht benimmt, gell?» Ich schaue den achtjährigen
strubbelblonden Kerl verdutzt an: «Nein, sicher nicht, wie kommst du da drauf?»
«Na ja, der Johan in meiner Klasse, der furzt und rülpst im Unterricht, und
natürlich bekommt er dann jedes Mal eine Strafe, aber neulich habe ich gehört,
wie Frau Müller, unsere Klassenlehrerin, zu Herrn Pfeifer, unserem Biolehrer
sagte, Johan sei halt sehr authentisch.»
«Matthias», sage ich, «man kann auch authentisch
sein und sich gut benehmen, authentisch
heisst, dass man sich nicht verstellt.»
Ein paar
Tage später ruft Matthias mich auf dem Handy an: «Onkel Rolf, Onkel Rolf, jetzt
weiss ich was authentisch bedeutet,
es bedeutet, dass man schlecht in Rechtschreibung ist.» Wiederum muss ich
widersprechen. Matthias aber beharrt: «Du, die Lisa in meiner Klasse, die hat
einen Aufsatz zurückbekommen, und der war ganz rot, weil sie Verständnis mit F
und hören mit öh und letzte mit ts und sprechen mit ä geschrieben hatte, und
Frau Müller hatte daruntergeschrieben: «Sehr authentischer Schreibstil.» «Nein, Matthias», sage ich, «das war
entweder ironisch gemeint oder Sie meinte, dass obwohl Lisa so schlechtes
Deutsch kann, der Aufsatz etwas ganz Eigenes ist.»
Aber hier kommen mir schon Zweifel: Hat die gute Frau Müller nicht doch sagen wollen, dass das Mädchen so authentisch ist, weil sie nicht verstellt, weil eben bei einer Legasthenikerin die Legasthenie zur Authentizität gehört?
Aber hier kommen mir schon Zweifel: Hat die gute Frau Müller nicht doch sagen wollen, dass das Mädchen so authentisch ist, weil sie nicht verstellt, weil eben bei einer Legasthenikerin die Legasthenie zur Authentizität gehört?
Authentisch
Eines der
dümmsten Wörter, die Sprache in den letzten Jahren befördert hat.
Finden wir
es wirklich klasse, wenn einer so ist, wie er ist? Unverstellt und pur, rein er
selbst, nicht verschraubt und unverändert?
Man stelle
sich vor, ein Tenor knödelt von Hause aus. Er knödelt seit seiner Pubertät und
er knödelt laut und mit Inbrunst. Und was machen wir? Wir geben so Blödsinn von
uns wie «Er hat eine authentische Stimme.»
Das mag zwar seine unverstellte und pure Stimme sein, aber wenn diese
unverfälschte und echte Stimme eben klingt wie ein rostiger Blechnapf, dann
wäre es doch besser er ändert etwas daran, ist dann halt kein authentischer Sänger mehr, aber dafür
ein guter Tenor?
Oder man
stelle sich vor, man sitzt in einem Park und auf einmal wird man angepöbelt,
gestossen, wird man getreten oder gebissen, geschlagen oder angespuckt. Normale
Menschen wehren sich. Oder holen die Polizei. Oder schauen, dass der Pöbler,
Stosser, der Treter oder Beisser, der Schläger oder Spucker in eine gute
psychiatrische Behandlung kommt. Es gibt aber auch wirklich Zeitgenossen, die
den Schweinehund damit entschuldigen, dass er eben authentisch sei und sehr authentische
Schläge und Bisse, sehr authentische Tritte
und Schubse austeile.
Man könnte
ein ganzes Wörterbuch zusammenstellen:
Restaurant
mit authentischer philippinischer
Küche: Ungeniessbarer Frass.
Der authentische Malstil des Künstlers:
Geschmier.
Sein Dialekt
ist sehr authentisch: Niemand
versteht ihn auch nur ansatzweise.
Authentischer Fahrstil: 45 Punkte in
Flensburg und keinen Führerschein mehr.
Authentische Wohnungseinrichtung:
Selbstgebasteltes und Abgeschmacktes Mobiliar.
usw.
usw.
Nein.
Hören wir
doch bitte damit auf, authentisch sein
zu wollen.
Ein wenig
Verstellung tut allen gut. Der Ort nämlich, an dem man sich im 18. Jahrhundert
am meisten verstellte, war der Hof. Die Adligen in Versailles waren alles
andere als authentisch. Wären sie authentisch gewesen, wären sie nicht
lange im Schloss geblieben, man hätte sie in die finstere Provinz, nach Lille
oder Nîmes, nach Perpignan oder Brest verbannt, oder Louis XIII, Louis XIV oder
Louis XV hätten gleich die Henker bestellt. Am Hof (in Versailles, aber auch in
Potsdam oder Wien, in Aranjuez oder Dresden) war man nicht authentisch, sondern höf-lich, daher kommt das nämlich.
Gestern
besuchte ich eine Schultheater-Aufführung, in der mein Grossneffe einen
Postboten spielte. Und ich war sehr froh, dass er nicht authentisch war. Er schaffte es, die Bühne ohne Stolpern zu
betreten, er sprach ohne Stammeln und ohne Aussetzer, er verhedderte sich nicht
in seinem Kostüm und vergass auch nicht die Briefe in der Requisite. Obwohl das
alles sehr authentisch gewesen wäre.
Ich hätte es nicht ertragen, wenn die Leiterin der Theater-AG zu ihm «Du warst
sehr authentisch» gesagt hätte.
Matthias
hätte übrigens dann mit einem «Fick dich!» geantwortet.
Was auch
wieder sehr authentisch gewesen wäre.
Aber
un-höf-lich.
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