Dienstag, 19. Juli 2016

Pst! Niemand sagen: Ich bin - Pendler

Da war eine Zeit, da war alles noch in Ordnung. Eine Zeit, wo ich noch zugeben konnte, was ich beruflich mache und vor allem WO ich das tue. Diese goldene Ära ist passé. Frau Leuthard hat mir den Kampf angesagt. Ich habe neulich schon darüber geschrieben, mehrfach und ich dachte, der Punkt ist vom Tisch, aber um eine Alliteration zu bemühen:

Leuthard lässt nicht locker.

Und so muss ich, bevor ich den schrecklichen Satz ausspreche, immer erst über die Schulter gucken, ob da niemand steht, muss flüstern, wispern und das Gegenüber anflehen, dass es das ja nicht weitersagt, muss meine LinkedIn-Einträge fälschen und bei meiner Steuer unkorrekte Angaben machen, denn – bitte sagen Sie es niemand: Ich bin Pendler.

Ja, ich bin einer von den Bösewichten, denen die gute Doris den Kampf angesagt hat.
«Pendler» hat inzwischen den gleichen Klang wie Raucher, Säufer oder Kiffer, es tönt wie Kleinkrimineller oder Kinderschänder, es hat den Geschmack von unsozial, asozial, egoistisch und psychisch gestört. Denn wir Pendler tun schreckliche Dinge, wir rotten uns an Bahnhöfen und S-Bahn-Stationen zusammen, wir verstopfen die Züge und die Unterführungen, alles ist overcrowded und voll wegen uns, alles überbelegt und alles dicht. Wenn wir nicht ÖVler sind, hocken wir uns in unsere Autos und verstopfen nun abwechslungsweise die Strassen und Autobahnen und stossen massenweise CO2 aus.

Warum tun wir das eigentlich? Darauf hat Leuthard eine klare Antwort: Aus Bosheit. Aus purer, reiner Bösartigkeit (sic). Denn wir könnten ja Home-Office machen, wir könnten gleitzeiten, wir könnten von unserem Ersparten leben, wir könnten, wir könnten…
Aber nein. Mit fast schon epischer Bösartigkeit rotten wir uns jeden Morgen zusammen, um wieder einmal an Stationen und in Zügen alles zu verstopfen.

Das Konzept, das die Dame Doris nun diesem Chaos entgegensetzt, trägt den schönen Beinamen «Mobility», also «Beweglichkeit», wobei es genau das einschränkt. Mobil sein heisst ja gerade, dass man fahren kann wohin und wann man will. Das ist so, als ob man eine JVA «Freedom» nennen würde oder eine Diätklinik «Schleckparadies», so als ob man eine Vollnarkose als «Awakeness» oder den durchstrukturierten Marsch durch die Pekinger Innenstadt, bei dem einen der Guide nicht von den Fersen weicht als «Zeit zur freien Verfügung».

Herzstück des «Mobility»-Konzepts ist die Abschaffung der Abos in der heutigen Form zugunsten des schönen Prinzips "Wer so blöd ist, von 7.00-9.00 und von 17.00-19.00 zu fahren, zahlt mehr."
Ich habe nie verstanden, warum man Attentate verübt, aber es gab in den letzten Tagen Momente, in denen ich mich so ganz, ganz, ganz klitzeklein in John Wilkes Booth und Harvey Lee Oswald hineinversetzen konnte. Denn der Ansatz von «Beweglichkeit» ist einfach nur zynisch. Die Dame, die in Olten wohnt und im Badischen Bahnhof im COOP Pronto schafft, tut das sicher nicht, weil sie so gerne Zug fährt, oder weil sie in Basel einen heimlichen Geliebten hat, sie tut dies auch nicht, um jeden Tag die wunderschöne Reise durchs Oberbaselbiet zu geniessen und auch nicht, weil der COOP am Rhein fünfmal so viel wie der an der Aare zahlt. Sie tut dies, weil sie in Olten keine Stelle fand. Und ein Tausender mehr an Fahrtkosten im Jahr trifft sie empfindlich. Und: Sie kann KEIN Heimbüro machen, sie MUSS manchmal um 9.00 anfangen, sie hat KEINE 3.000.000 auf der Seite. (Sie gibt es übrigens wirklich)

Überall auf der Welt ballen sich die Pendlerströme am Morgen und am frühen Abend, sei es in NY, London oder Tokio, überall reisen Tausende von Arbeitnehmern aus den Agglos in die Metropolen, wir alle haben die Bilder im Kopf, am schönsten sicher das, auf dem Berufsstosser die Menschen in die Tokioter Subway quetschen. Warum sollte es den Eidgenossen gelingen, was noch nie irgendwo auf der Welt gelang? Die Abschaffung der Rushhour?

Die letzte Möglichkeit der Pendelvermeidung haben wir noch nicht diskutiert: Einfach dort wohnen, wo man tätig ist. Warum eigentlich nicht?
Ein Freund von mir hatte sich vor zehn Jahren die folgenden Ziele gesetzt: Er wollte den Ostschweizer Triathlon gewinnen, er wollte Jodelmeister werden und er wollte eine Wohnung in Zürich-Mitte. 2009 siegte er im Laufen, Schwimmen und Velofahren souverän gegen 341 Konkurrentinnen und Konkurrenten. 2011 wurde ihm die die Jodel-Trophäe (nicht zu verwechseln mit dem Jodel-Diplom) überreicht, die ihm bestätigte, als bester von 678 Jodlern gejodelt zu haben. Eine Wohnung an der Sihl oder im Niederdorf, beim Zoo oder am Grossmünster war bisher noch nicht drin. Gegen bis zu 1200 Mitbewerber konnte er sich nicht behaupten. Zumal er auch nicht bereit war, für 30qm ohne Balkon fünf Monatsmieten Kaution zu zahlen, die Renovierung der Toilette zu übernehmen und zu versprechen, zweimal pro Woche den ekligen Pudel der Vermieterin auszuführen.

Nein, die Leute wohnen im Umland, weil man in den dichtgedrängten Innerstädten oft keine Bude bekommt.
Übrigens tun das auch manche Politiker. Auch sie pendeln, allerdings nicht in der vollgequetschten
S-Bahn, sondern im Auto mit Chauffeur.

Da gab es eine Zeit, da war alles noch OK. Eine Zeit, wo ich noch sagen konnte, was ich beruflich mache und vor allem WO ich das tue. Diese goldene Ära ist passé. Frau Leuthard hat mir den Kampf angesagt. Und so muss ich, bevor ich den schrecklichen Satz ausspreche, mich immer erst vergewissern, ob da niemand steht, muss flüstern, wispern und das Gegenüber anflehen, dass es das ja nicht weitersagt, muss meine Steuererklärung fälschen und bei LinkedIn unkorrekte Angaben machen, denn – bitte sagen Sie es niemand:
Ich
bin
Pendler.

    


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