Montag, 16. November 2015

Liebe Freunde, bitte veröffentlicht keine Tagebücher! (wie F.J.Raddatz)

Seitdem ich die Tagebücher von F. J .Raddatz gelesen habe bzw. lese (ich habe den ersten Band durch und bin mitten im zweiten), wird mir sehr unwohl, wenn ich an die eventuellen Tagebücher oder Memoiren, Lebenserinnerungen von meinen Freunden und Bekannten denke.

Raddatz beschwert sich nämlich laufend über viele, viele kleine Details und tut das mit scharfer, boshafter Zunge. Hier hat man ihm zu schlechten Wein eingeschenkt, dort zu wenig, bei Person X war das ganze Essen mies (oder nicht exquisit genug), bei Y waren zwar Wein und Speisen gut, aber es fehlten die Stoffservietten und die Messerbänkchen. Mal war das Gästezimmer zu klein, mal zu schlecht eingerichtet, mal waren keine Handtücher im Bad, mal die falschen. In Freiburg, das nur einmal auf 1800 Seiten erwähnt wird, hatte die Buchhandlung (ich habe bis jetzt nicht herausgefunden, ob es Herder oder Rombach war), die ihn zu einer Lesung eingeladen hatte, das Sakrileg begangen, ihn im DORINT unterzubringen. FJR gehörte natürlich – seiner Ansicht nach – ins beste Haus am Platz, ins Colombi-Hotel.

Seit ich also nun diese Tagebücher lese, wird mir angst und bange. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde werden nun sicher keine Memoiren oder ähnliche Dinge veröffentlichen, aber ein paar sind doch darunter, die eventuell noch so weit aufsteigen, dass Lebens- und Tageserinnerungen von ihnen gekauft würden. Den einen Kumpel SEHE ich sogar in 20 Jahren irgendwo als Feuilletonchef, also in genau der Position, die Raddatz bei der ZEIT innehatte.

Was werden nun diese Leute über mich schreiben? War mein Essen gut genug, mein Kuchen schmackhaft und der Wein nicht zu billig? Und wenn Wein, Kuchen und Essen einigermassen gut wegkommen, wird dann über meine Tischdekoration das Urteil gefällt? Denn ich besitze keine Messerbänkchen und Stoffservietten gibt es bei mir auch nie.
Wenn Leute bei mir übernachteten, habe ich ihnen das Gästebett frisch bezogen und ihnen gesagt, wo im Bad die Gästetücher liegen. Ich habe nie, was FJC natürlich erwartet hätte, zwei Handtücher aufs Kopfkissen gelegt, an der Ecke eingeschlagen und ein Schokolädchen drauf. Wird  mein zukünftiger Kulturressortleiter nun genau das schreiben? „Bei RH wieder nach mittelmässigen Wein – zu wenig! – die Handtücher im Bad suchen müssen.“?

Eine ganz furchtbare Geschichte kommt mir dabei in den Sinn. (Sie ist wahr, schwörr!) Ich hatte einer Bekannten, die die Sonaten für Violine und obligates Cembalo aufführte, versprochen, ihrem Cembalisten zu blättern. Nun sang einer meiner Chöre am Nachmittag auf dem 50sten eines Chorbasses, der in seinem Garten einen Apéro veranstaltete. Da dieser Bass Schulleiter und ein Basler Grossrat war, liess er sich natürlich nicht lumpen. Ich wage sogar zu sagen, dass der Empfang auch FJR zufrieden gestellt hätte, die Häppchen waren köstlich, es gab einen herrlichen spritzigen Weissen, der auch, da unendlich viel Personal da war, ständig nachgeschenkt wurde. Und dieses Nachschenken erwies sich als fatal, denn vier Stunden vor dem Blättern hatte ich einen in der Krone; und auch nach einer Stunde Schlaf und drei Tassen Espresso war noch Restalkohol da. Ich beichtete dies dem Cembalisten, worauf er erwiderte (er war Osteuropäer): „Ich habbe kein Wahl.“ Meinen Hinweis, dass er keinE Wahl habe und der Wal ein grosser Fisch sei, konterte er damit, dass er ja auch keinen grossen Fisch habe. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, ob dies nun einfach eine Wortspielerei war oder ob er damit sagen wollte, dass er sich lieber von einem Meeressäuger blättern liesse als von mir.
Übrigens – das sei unbedingt noch angefügt – habe ich mich nicht ein einziges Mal vertan.

Wird jener Osteuropäische Cembalist, der inzwischen auch dirigiert und zu den führenden Köpfen seines Landes bezüglich Alter Musik gehört und auch öfters bei uns im Rundfunk zu hören ist (sogar live), wird er also in seinen Memoiren diese Szene erwähnen?
„Musste den ganzen Abend die Fahne von RH ertragen, der mir blätterte. Obwohl es gutging, nahm mir doch die Vorstellung, er KÖNNE sich vertun, die ganze Freude an Bach.“?
Gut, Musiker sind lange, lange vollbeschäftigt. Er wird also frühestens mit 80 ans Schreiben gehen und da er viel jünger ist, bin ich vielleicht schon senil oder unterm Boden.

Aber um solche Dinge zu vermeiden, um die Nennung von evtl. versalzenem Essen, von schlechtem Kuchen und billigem Wein (zu wenig kommt bei mir eigentlich nicht vor), um die Nennung von nichtvorhandenen Messerbänkchen und Stoffservietten, um das Erwähnen von Handtüchern im Bad zu vermeiden, schlage ich nun folgendes Prozedere vor:

1 Bitte sagt mir, ob ihr tägliche Aufzeichnungen macht.
2 Bitte sagt mir, ob irgendwann der Wein zu billig oder das Essen nicht gut war.
3 Bitte sagt mir, was ihr beim nächsten Besuch benötigt.

So können wir, glaube ich, ernsthafte Probleme vermeiden.
Seitdem ich die Tagebücher von F. J .Raddatz gelesen habe bzw. lese (ich habe den ersten Band durch und bin mitten im zweiten), weiss ich, dass solche Tagebücher eine heikle Sache sind.
Aber:
Die Tagebücher von FJR sind ein wunderbarer Gang durch die BRD-Kulturgeschichte und jeder/jedem wärmstens zu empfehlen.

 

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