Raddatz beschwert sich nämlich laufend über viele, viele
kleine Details und tut das mit scharfer, boshafter Zunge. Hier hat man ihm zu
schlechten Wein eingeschenkt, dort zu wenig, bei Person X war das ganze Essen
mies (oder nicht exquisit genug), bei Y waren zwar Wein und Speisen gut, aber
es fehlten die Stoffservietten und die Messerbänkchen. Mal war das Gästezimmer
zu klein, mal zu schlecht eingerichtet, mal waren keine Handtücher im Bad, mal
die falschen. In Freiburg, das nur einmal auf 1800 Seiten erwähnt wird, hatte
die Buchhandlung (ich habe bis jetzt nicht herausgefunden, ob es Herder oder
Rombach war), die ihn zu einer Lesung eingeladen hatte, das Sakrileg begangen,
ihn im DORINT unterzubringen. FJR gehörte natürlich – seiner Ansicht nach – ins
beste Haus am Platz, ins Colombi-Hotel.
Seit ich also nun diese Tagebücher lese, wird mir angst und
bange. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde werden nun sicher keine
Memoiren oder ähnliche Dinge veröffentlichen, aber ein paar sind doch darunter,
die eventuell noch so weit aufsteigen, dass Lebens- und Tageserinnerungen von
ihnen gekauft würden. Den einen Kumpel SEHE ich sogar in 20 Jahren irgendwo als
Feuilletonchef, also in genau der Position, die Raddatz bei der ZEIT innehatte.
Was werden nun diese Leute über mich schreiben? War mein Essen gut genug, mein Kuchen schmackhaft und der Wein nicht zu billig? Und wenn Wein, Kuchen und Essen einigermassen gut wegkommen, wird dann über meine Tischdekoration das Urteil gefällt? Denn ich besitze keine Messerbänkchen und Stoffservietten gibt es bei mir auch nie.
Wenn Leute bei mir übernachteten, habe ich ihnen das Gästebett frisch bezogen und ihnen gesagt, wo im Bad die Gästetücher liegen. Ich habe nie, was FJC natürlich erwartet hätte, zwei Handtücher aufs Kopfkissen gelegt, an der Ecke eingeschlagen und ein Schokolädchen drauf. Wird mein zukünftiger Kulturressortleiter nun genau das schreiben? „Bei RH wieder nach mittelmässigen Wein – zu wenig! – die Handtücher im Bad suchen müssen.“?
Eine ganz furchtbare Geschichte kommt mir dabei in den Sinn.
(Sie ist wahr, schwörr!) Ich hatte einer Bekannten, die die Sonaten für Violine
und obligates Cembalo aufführte, versprochen, ihrem Cembalisten zu blättern.
Nun sang einer meiner Chöre am Nachmittag auf dem 50sten eines Chorbasses, der
in seinem Garten einen Apéro veranstaltete. Da dieser Bass Schulleiter und ein
Basler Grossrat war, liess er sich natürlich nicht lumpen. Ich wage sogar zu
sagen, dass der Empfang auch FJR zufrieden gestellt hätte, die Häppchen waren
köstlich, es gab einen herrlichen spritzigen Weissen, der auch, da unendlich
viel Personal da war, ständig nachgeschenkt wurde. Und dieses Nachschenken
erwies sich als fatal, denn vier Stunden vor dem Blättern hatte ich einen in
der Krone; und auch nach einer Stunde Schlaf und drei Tassen Espresso war noch
Restalkohol da. Ich beichtete dies dem Cembalisten, worauf er erwiderte (er war
Osteuropäer): „Ich habbe kein Wahl.“ Meinen Hinweis, dass er keinE Wahl habe
und der Wal ein grosser Fisch sei, konterte er damit, dass er ja auch keinen
grossen Fisch habe. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, ob dies nun
einfach eine Wortspielerei war oder ob er damit sagen wollte, dass er sich
lieber von einem Meeressäuger blättern liesse als von mir.
Übrigens – das sei unbedingt noch angefügt – habe ich mich
nicht ein einziges Mal vertan.
Wird jener Osteuropäische Cembalist, der inzwischen auch
dirigiert und zu den führenden Köpfen seines Landes bezüglich Alter Musik
gehört und auch öfters bei uns im Rundfunk zu hören ist (sogar live), wird er
also in seinen Memoiren diese Szene erwähnen?
„Musste den ganzen Abend die Fahne von RH ertragen, der mir
blätterte. Obwohl es gutging, nahm mir doch die Vorstellung, er KÖNNE sich
vertun, die ganze Freude an Bach.“?Gut, Musiker sind lange, lange vollbeschäftigt. Er wird also frühestens mit 80 ans Schreiben gehen und da er viel jünger ist, bin ich vielleicht schon senil oder unterm Boden.
Aber um solche Dinge zu vermeiden, um die Nennung von evtl.
versalzenem Essen, von schlechtem Kuchen und billigem Wein (zu wenig kommt bei
mir eigentlich nicht vor), um die Nennung von nichtvorhandenen Messerbänkchen
und Stoffservietten, um das Erwähnen von Handtüchern im Bad zu vermeiden,
schlage ich nun folgendes Prozedere vor:
1 Bitte sagt mir, ob ihr tägliche Aufzeichnungen macht.
2 Bitte sagt mir, ob irgendwann der Wein zu billig oder das
Essen nicht gut war.3 Bitte sagt mir, was ihr beim nächsten Besuch benötigt.
So können wir, glaube ich, ernsthafte Probleme vermeiden.
Seitdem ich die Tagebücher von F. J .Raddatz gelesen habe
bzw. lese (ich habe den ersten Band durch und bin mitten im zweiten), weiss
ich, dass solche Tagebücher eine heikle Sache sind.Aber:
Die Tagebücher von FJR sind ein wunderbarer Gang durch die BRD-Kulturgeschichte und jeder/jedem wärmstens zu empfehlen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen