Gut, wahrscheinlich die Blutung gestillt, so ein
Ohrabschlagen gibt ja doch eine relativ hässliche Wunde.
Aber als zweites? Sie hätten Ihr Handy gezückt. Und zwar
nicht, wie man denken könnte, um die Polizei zu holen, schliesslich erfüllt das
Lauscherkappen ja eindeutig den Tatbestand der mutwilligen gefährlichen
Körperverletzung, da muss man die Kommissare herbeiziehen, damit hier Spuren
gesichert und Zeugen befragt, damit hier alles Nötige getan wird, um mich
dingfest zu machen.
Nein, Sie hätten Ihr Handy gezückt um ein Selfie zu knipsen, garantiert, und dieses Selfie, noch vor dem ersten Hahnenschrei auf Facebook gepostet, natürlich, nachdem die Polizei nun doch da war, nicht von Ihnen gerufen, Sie waren ja am Selfie machen, aber es gibt ja noch anderer pflichtbewusste Menschen, nach Spurensicherung und Zeugenbefragung, jedenfalls dieses Selfie würde Ihnen heute eine kleine Berühmtheit verleihen. Das Bild mit dem fehlenden Ohr und dem Notverband würde 15.000-mal geliked, würde weitergereicht und kopiert und geteilt. Sie toppten mit diesem Ich-ohne-Ohr-Post jedenfalls Jan mit seinem eingewachsenen Zehennagel und Jutta mit ihrer Beule, genauso wie Bernd mit seinem Gipsverband und Maria mit ihrer Armschürfwunde, alles Kollegen, die ihre körperlichen Scheusslichkeiten stets Facebook zeigen.
Vielleicht würden Sie es sogar schaffen, die Cat-Stevens-Zeilen The first cut is the deepest und And if I ever lose my ears zu kombinieren und mit einer Ich-ohne-Ohr-Fotostrecke auf YouTube zu stellen. Und vielleicht würden Sie für eine kurze Zeit berühmt, bis…
Bis, ja bis Kollege Jens ein Foto postet, auf dem man ihn
ohne Ohr UND ohne Nase, sowie mit einigen fehlenden Zähnen sieht, und dieser
Post, dieses Bild, dieses Selfie toppt Ihres natürlich um Längen.
So ist es mit dem Ruhm.
Mit dem Nachruhm ist es anders.
Jener Herr, der vor ca. 2000 Jahren am Gründonnerstag ein
Ohr abgeschlagen bekam, weil er bei der Verhaftung eines angeblichen religiösen
Fanatikers dabei war, dachte nicht im Traum daran, dass man heute seinen Namen
noch kennen würde. Er hätte nie damit gerechnet, dass irgendjemand diese Sache
aufschreiben würde, hätte nie damit gerechnet, dass die Truppe jenes
Verhafteten eine Weltreligion begründen würde, und dass ihr Buch, in alle
Sprachen übersetzt, seinen Namen beinhalten würde.
Aber da das Personenregister der Bibel die von Krieg und Frieden um das 1000fache übertrifft,
ist es immer noch erstaunlich, dass eine Nebenfigur in den Köpfen blieb.
Dies verdankt unser Kriegsknecht der Tatsache, dass ein
Kirchenmusiker in Leipzig, übrigens einer, der auch sehr lange in der
Versenkung verschwunden war, den Text vertonte und dabei als schrifttreuer
Lutheraner kein einziges Wort weglassen durfte und wollte. So singt der
Evangelist in der Johannespassion sehr dramatisch und effektvoll auf einen
Septakkord:
Und hieb ihm sein
recht Ohr ab.
Um dann schlicht vertont und simpel hinzuzufügen:
Und der Knecht hiess
Malchus. (Dam – dam)
Das Dam-dam singt er natürlich nicht, das ist der V – I –
Schluss des Continuos, also der Begleitung, Cello und Orgel. Selbst die
ernsthaftesten und rührbarsten Zuhörer müssen an dieser Stelle stets lächeln
oder sogar grinsen, wenn nicht lachen, sie ist einfach zu komisch.
So ist jedem Musikfreund der Name des Einohrigen bis zum
heutigen Tage bekannt.
In die Ruhmeshalle der Nachwelt hat es sonst nur noch ein
Monoaurist geschafft, der sich auch nicht träumen liess, das seine Bilder zu
den teuersten der Welt gehören würden und bei Sotheby’s für Millionen unter den
Hammer kommen würden: Er hatte seine Ölerelle in ärmlichen Kammern gepinselt
und sich immer dabei überlegt, ob seine Knete noch für Rotwein und Käse reichen
würde. Vincent wäre froh gewesen, wenn irgendjemand mal von seinen Gemälden
Notiz genommen hätte, dass seine Sonnenblumen in gewissen Zeiten in jeder
Wohnstube hängen würden, hätte er für ein Hirngespinst gehalten.
So ist es mit Ruhm und Nachruhm:
Der erste vergänglich, der zweite nicht planbar.
Posten Sie also ruhig alle Ihre Selfies, mit oder ohne Ohr, die Wahrscheinlichkeit, dass eines das 22. Jahrhundert erreicht, ist 0,000000000000007.
Der erste vergänglich, der zweite nicht planbar.
Posten Sie also ruhig alle Ihre Selfies, mit oder ohne Ohr, die Wahrscheinlichkeit, dass eines das 22. Jahrhundert erreicht, ist 0,000000000000007.
Kästner hat noch ein nettes Gedicht zum Thema Nachruhm
geschrieben, das ich Ihnen nicht vorenthalten will, es geht hier auch um Hauen,
aber nicht Ohre, sondern Seile.
Den Gordischen Knoten
zu zerschlagen
Gehörte zu den Werken
Alexanders
Doch wer war’s, der
den Knoten knüpfte?
Den kennt kein Mensch.
Wahrscheinlich war es
jemand anders.
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