Freitag, 3. April 2015

Ein abgetrenntes Ohr als Fundament für den Nachruhm

Wenn ich Ihnen gestern Nacht ein Ohr abgeschlagen hätte, was hätten Sie als erstes gemacht?
Gut, wahrscheinlich die Blutung gestillt, so ein Ohrabschlagen gibt ja doch eine relativ hässliche Wunde.
Aber als zweites? Sie hätten Ihr Handy gezückt. Und zwar nicht, wie man denken könnte, um die Polizei zu holen, schliesslich erfüllt das Lauscherkappen ja eindeutig den Tatbestand der mutwilligen gefährlichen Körperverletzung, da muss man die Kommissare herbeiziehen, damit hier Spuren gesichert und Zeugen befragt, damit hier alles Nötige getan wird, um mich dingfest zu machen.

Nein, Sie hätten Ihr Handy gezückt um ein Selfie zu knipsen, garantiert, und dieses Selfie, noch vor dem ersten Hahnenschrei auf Facebook gepostet, natürlich, nachdem die Polizei nun doch da war, nicht von Ihnen gerufen, Sie waren ja am Selfie machen, aber es gibt ja noch anderer pflichtbewusste Menschen, nach Spurensicherung und Zeugenbefragung, jedenfalls dieses Selfie würde Ihnen heute eine kleine Berühmtheit verleihen. Das Bild mit dem fehlenden Ohr und dem Notverband würde 15.000-mal geliked, würde weitergereicht und kopiert und geteilt. Sie toppten mit diesem Ich-ohne-Ohr-Post jedenfalls Jan mit seinem eingewachsenen Zehennagel und Jutta mit ihrer Beule, genauso wie Bernd mit seinem Gipsverband und Maria mit ihrer Armschürfwunde, alles Kollegen, die ihre körperlichen Scheusslichkeiten stets Facebook zeigen.

Vielleicht würden Sie es sogar schaffen, die Cat-Stevens-Zeilen The first cut is the deepest und And if I ever lose my ears zu kombinieren und mit einer Ich-ohne-Ohr-Fotostrecke auf YouTube zu stellen. Und vielleicht würden Sie für eine kurze Zeit berühmt, bis…
Bis, ja bis Kollege Jens ein Foto postet, auf dem man ihn ohne Ohr UND ohne Nase, sowie mit einigen fehlenden Zähnen sieht, und dieser Post, dieses Bild, dieses Selfie toppt Ihres natürlich um Längen.

So ist es mit dem Ruhm.
Mit dem Nachruhm ist es anders.

Jener Herr, der vor ca. 2000 Jahren am Gründonnerstag ein Ohr abgeschlagen bekam, weil er bei der Verhaftung eines angeblichen religiösen Fanatikers dabei war, dachte nicht im Traum daran, dass man heute seinen Namen noch kennen würde. Er hätte nie damit gerechnet, dass irgendjemand diese Sache aufschreiben würde, hätte nie damit gerechnet, dass die Truppe jenes Verhafteten eine Weltreligion begründen würde, und dass ihr Buch, in alle Sprachen übersetzt, seinen Namen beinhalten würde.
Aber da das Personenregister der Bibel die von Krieg und Frieden um das 1000fache übertrifft, ist es immer noch erstaunlich, dass eine Nebenfigur in den Köpfen blieb.
Dies verdankt unser Kriegsknecht der Tatsache, dass ein Kirchenmusiker in Leipzig, übrigens einer, der auch sehr lange in der Versenkung verschwunden war, den Text vertonte und dabei als schrifttreuer Lutheraner kein einziges Wort weglassen durfte und wollte. So singt der Evangelist in der Johannespassion sehr dramatisch und effektvoll auf einen Septakkord:

Und hieb ihm sein recht Ohr ab.

Um dann schlicht vertont und simpel hinzuzufügen:

Und der Knecht hiess Malchus. (Dam – dam)

Das Dam-dam singt er natürlich nicht, das ist der V – I – Schluss des Continuos, also der Begleitung, Cello und Orgel. Selbst die ernsthaftesten und rührbarsten Zuhörer müssen an dieser Stelle stets lächeln oder sogar grinsen, wenn nicht lachen, sie ist einfach zu komisch.
So ist jedem Musikfreund der Name des Einohrigen bis zum heutigen Tage bekannt.

In die Ruhmeshalle der Nachwelt hat es sonst nur noch ein Monoaurist geschafft, der sich auch nicht träumen liess, das seine Bilder zu den teuersten der Welt gehören würden und bei Sotheby’s für Millionen unter den Hammer kommen würden: Er hatte seine Ölerelle in ärmlichen Kammern gepinselt und sich immer dabei überlegt, ob seine Knete noch für Rotwein und Käse reichen würde. Vincent wäre froh gewesen, wenn irgendjemand mal von seinen Gemälden Notiz genommen hätte, dass seine Sonnenblumen in gewissen Zeiten in jeder Wohnstube hängen würden, hätte er für ein Hirngespinst gehalten.

So ist es mit Ruhm und Nachruhm:
Der erste vergänglich, der zweite nicht planbar.
Posten Sie also ruhig alle Ihre Selfies, mit oder ohne Ohr, die Wahrscheinlichkeit, dass eines das 22. Jahrhundert erreicht, ist 0,000000000000007.

Kästner hat noch ein nettes Gedicht zum Thema Nachruhm geschrieben, das ich Ihnen nicht vorenthalten will, es geht hier auch um Hauen, aber nicht Ohre, sondern Seile.

Den Gordischen Knoten zu zerschlagen
Gehörte zu den Werken Alexanders
Doch wer war’s, der den Knoten knüpfte?
Den kennt kein Mensch.
Wahrscheinlich war es jemand anders.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen