Freitag, 5. Oktober 2012

Sacco, Vanzetti und der Altlinke


Ich hatte in der Studikneipe in Marburg gerade meinen Salat serviert bekommen, als es vom Nachbartisch auf einmal dozierte: „Das in Moskau ist ein Schauprozess, so wie die in Syrien oder im Iran oder sonstwo durchgezogen werden. Seit Sacco und Vanzetti 1917 in Alabama gehängt wurden, hat sich nichts geändert.“ Ich wandte mich um und sah einen Typ Mensch, den ich für ausgestorben hielt: Den Altlinken. Wallemähne, Marxbart, Selbstgedrehte in der Hand, sass er inmitten seiner Jüngerinnen und Jünger und lehrte. Ich konnte mir mit geschlossenen Augen seine Wohnung vorstellen, Holzboden, Seyfriedposter, Papyrus und viel, viel, viel Batik. Ich weiss nicht, warum ich in diesem Moment der Hafer ritt und der Teufel stach, oder war es umgekehrt, ich drehte mich zu ihm und sagte: „So, die waren unschuldig, weiss man das denn genau?“ Der Altlinke schaute mich an und brummte: „Du als Spiesser natürlich nicht. Aber sie wurden zu Unrecht ermordet.“ Nun musste ich doch entgegnen, dass ich kein Spiesser sei, ich sei sogar lange in der linken Szene unterwegs gewesen, und natürlich wisse ich, dass die Unschuld von Sacco und Vanzetti zum progressiven Wissenskanon gehöre, aber ich hätte eben nie die Story wirklich studiert, wie die meisten meiner Genossen. „Wenn du mal links warst, hast du dich aber ganz schön zum Negativen verändert.“ Ich legte noch einen drauf und sagte: „Ich habe mich verändert, im Gegensatz zu dir, du bist ja von 1975 direkt in die Gegenwart gehüpft, aber älter und reifer werden, heisst für mich eben immer mehr die Dinge zu hinterfragen. Hast du mal die Texte von der Meinhof wirklich gelesen, wie faschistoid und menschenverachtend das ist? „Und natürlich darf geschossen werden“ erinnert doch sehr an „morgen wird zurück geschossen“.  Hast du damals den NATO-Doppelbeschluss wirklich im Kopf gehabt oder hast du nur dagegen demonstriert?“
Nun guckt er, als würde ich gerade einen Frosch gebären und gleichzeitig Puccini singen.
Auf solch einen rechten Scheiss habe er keinen Bock.
Natürlich, die Keule kommt immer. Er habe, so der Altlinke, die „Geschichte der Anarchie“ gelesen, 3 Bände von Piet Bompfer, einem Historiker, aber eben einem der dialektisch-materialistisch arbeite. Und Sacco und Vanzetti seien unschuldig gewesen.
Nach dem Essen ging ich sofort in die UB und deckte mich mit Büchern über die beiden Italoamerikaner ein. Und zwar rechte, linke und neutrale Literatur. Schon bei den Klappentexten merkte ich, dass das Wissen unseres Rauschebartes nicht so doll war. Sacco und Vanzetti starben 1927, und zwar nicht in Alabama, auch wenn das passen würde, sondern in Massachusetts, und durch den Elektrischen Stuhl.
Es lebe das ideologisch gefärbte Halbwissen.









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