Dienstag, 15. Mai 2012

Landbrüderschaft


Die Sonne wandert aufwärts über den See und beginnt mich zu blenden. Weil ich weiter in meinem Buch lesen will, frage ich die Wirtin im Seecafé in Dutzikon (SG), ob ich den Tisch wechseln könne. Eigentlich eine unnötige Frage, aber sie zeigt auf den Bereich, der im angenehmen Schatten liegt, und meint: „Aber nicht dorthin, da bekommen wir Probleme mit der Rechnung. Das ist nämlich schon wieder Thurgau. Sie wissen, die Steuer.“ Da ich nun nicht lesen kann, blinzle ich ein wenig in die warme Sonne und denke über die Verrücktheit der Schweizer Kantonsgrenzen nach. Denn, ich bin mir sicher, auf der Herfahrt habe ich gesehen, dass das Café am Ortanfang liegt, und der vorige Ort war auch Thurgau, das heisst die Kantonsgebiete sind hier in Metergrösse? Über meine Gedanken schlafe ich ein. Als ich wieder aufwache, sitzt mir ein alter, weisshaariger Mann mit wallendem Bart gegenüber. Ich zucke zusammen. „Keine Angst“, so beginnt er „ich will Ihnen nur eine Geschichte erzählen:“
Als die Drei auf dem Rütli die Schwerter zum Schwur erhoben und die bekannte Formel vom Volk von Brüdern gesprochen hatten, beschlossen Sie eine Art geographischer Blutsbrüderschaft. So wie beim Blutsbund Tropfen fremden Blutes in das eigene dringen, sollte das eigene Territorium von dem des Anderen durchdrungen werden. Sie nahmen eine Karte, begannen zu planen und zu zeichnen. So gaben Uri, Schwyz und Unterwalden zwei Dörfer, je eines an einen der anderen beiden Kantone, so dass sich in jedem Gebiet zwei Exklaven befanden. Diese Exklaven gibt es längst nicht mehr, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben.
Ich will noch etwas erwidern, aber der Alte beginnt durchsichtig zu werden, bis er sich in Luft auflöst. Ich reibe mir die Augen. Habe ich nur geträumt?
Auf jeden Fall ist das eine schöne Geschichte. Ob sie in anderen Ländern auch funktionieren würde? Etwas Landbrüderschaft täte doch allen Staaten gut. So könnte man z.B. die Quartiere in Berlin, in denen „gschwätzt“ wird, in denen man Laugenbrezeln backt und Kartoffelsalat mit Bratensauce übergiesst, gleich Baden-Württemberg zuschlagen. Dafür gäben die Stuttgarter einen Teil an Hessen, wahrscheinlich Feuerbach. Die Feuerbacher denken ja sowieso, dass sie etwas völlig anderes sind. Und Hessen träte das Frankfurter Bankenviertel an Berlin ab. Die Geldmeile in Mainhattan ist ja der Ort, wo die deutsche Politik gemacht wird und muss auch sichtbar mit der Hauptstadt verbunden werden.
Nach so vielen Grübeleien habe ich Lust auf einen Schwumm. Ich frage die Wirtin, ob es drüben im Thurgau eine Seebadi gebe. Die gebe es tatsächlich, meint sie, also der Eingang und die Duschen seien im Thurgau, geschwommen werde dann wieder in St. Gallen. Ich lächle. Das kenne ich vom Bachgraben. Dort sind die Männergarderobe und das Schwimmbecken auch in unterschiedlichen Kantonen. Und wenn sie dort von bösen Buben überfallen werden, vergewissern Sie sich bitte, bevor Sie den Notruf wählen, WO Sie liegen. Sonst kommt die falsche Polizei, kann nichts tun, zieht wieder ab und schickt die Kollegen.
Vielleicht hätten Fürst, Melchtal und Stauffacher doch ihre Handgelenke auf einander pressen sollen.

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