Die Sonne wandert aufwärts über den
See und beginnt mich zu blenden. Weil ich weiter in meinem Buch lesen
will, frage ich die Wirtin im Seecafé in Dutzikon (SG), ob ich den
Tisch wechseln könne. Eigentlich eine unnötige Frage, aber sie
zeigt auf den Bereich, der im angenehmen Schatten liegt, und meint:
„Aber nicht dorthin, da bekommen wir Probleme mit der Rechnung. Das
ist nämlich schon wieder Thurgau. Sie wissen, die Steuer.“ Da ich
nun nicht lesen kann, blinzle ich ein wenig in die warme Sonne und
denke über die Verrücktheit der Schweizer Kantonsgrenzen nach.
Denn, ich bin mir sicher, auf der Herfahrt habe ich gesehen, dass das
Café am Ortanfang liegt, und der vorige Ort war auch Thurgau, das
heisst die Kantonsgebiete sind hier in Metergrösse? Über meine
Gedanken schlafe ich ein. Als ich wieder aufwache, sitzt mir ein
alter, weisshaariger Mann mit wallendem Bart gegenüber. Ich zucke
zusammen. „Keine Angst“, so beginnt er „ich will Ihnen nur eine
Geschichte erzählen:“
Als die Drei auf dem Rütli die
Schwerter zum Schwur erhoben und die bekannte Formel vom Volk von
Brüdern gesprochen hatten, beschlossen Sie eine Art geographischer
Blutsbrüderschaft. So wie beim Blutsbund Tropfen fremden Blutes in
das eigene dringen, sollte das eigene Territorium von dem des Anderen
durchdrungen werden. Sie nahmen eine Karte, begannen zu planen und zu
zeichnen. So gaben Uri, Schwyz und Unterwalden zwei Dörfer, je
eines an einen der anderen beiden Kantone, so dass sich in jedem
Gebiet zwei Exklaven befanden. Diese Exklaven gibt es längst nicht
mehr, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben.
Ich will noch etwas erwidern, aber der
Alte beginnt durchsichtig zu werden, bis er sich in Luft auflöst.
Ich reibe mir die Augen. Habe ich nur geträumt?
Auf jeden Fall ist das eine schöne
Geschichte. Ob sie in anderen Ländern auch funktionieren würde?
Etwas Landbrüderschaft täte doch allen Staaten gut. So könnte man
z.B. die Quartiere in Berlin, in denen „gschwätzt“ wird, in
denen man Laugenbrezeln backt und Kartoffelsalat mit Bratensauce
übergiesst, gleich Baden-Württemberg zuschlagen. Dafür gäben die
Stuttgarter einen Teil an Hessen, wahrscheinlich Feuerbach. Die
Feuerbacher denken ja sowieso, dass sie etwas völlig anderes sind.
Und Hessen träte das Frankfurter Bankenviertel an Berlin ab. Die
Geldmeile in Mainhattan ist ja der Ort, wo die deutsche Politik
gemacht wird und muss auch sichtbar mit der Hauptstadt verbunden
werden.
Nach so vielen Grübeleien habe ich
Lust auf einen Schwumm. Ich frage die Wirtin, ob es drüben im
Thurgau eine Seebadi gebe. Die gebe es tatsächlich, meint sie, also
der Eingang und die Duschen seien im Thurgau, geschwommen werde dann
wieder in St. Gallen. Ich lächle. Das kenne ich vom Bachgraben. Dort
sind die Männergarderobe und das Schwimmbecken auch in
unterschiedlichen Kantonen. Und wenn sie dort von bösen Buben
überfallen werden, vergewissern Sie sich bitte, bevor Sie den Notruf
wählen, WO Sie liegen. Sonst kommt die falsche Polizei, kann nichts
tun, zieht wieder ab und schickt die Kollegen.
Vielleicht hätten Fürst, Melchtal und
Stauffacher doch ihre Handgelenke auf einander pressen sollen.
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