Freitag, 18. Mai 2012

Die Deutschprüfung

Am Sonntagmorgen wachte ich schweissgebadet auf. Ich hatte einen furchtbaren Alptraum gehabt. Im Traum war ich nackt auf die Strasse gelaufen , weil ich vergessen hatte, meine Kleidung anzuziehen. In der Kurzanalyse meines Traumes fand ich zwei Deutungsansätze, einen körperlich-sexuellen und einen, der sich um das Thema "Vergessen" drehte. Und tatsächlich war das Vergessen die Lösung, ich hatte die Deutschprüfung verdrängt! Die Deutschprüfung! Und sie war schon am Mittwoch!
Ich kramte sofort die Literaturliste hervor, sie konnte schlimmer nicht aussehen:
Grimmelshausen, Simplicissimus
Goethe, Faust II
Musil, Mann ohne Eigenschaften
Mann, Zauberberg
Grass, Blechtrommel
Schön, den Faust kannte ich einigermassen, allerdings nicht die ca. 60 Deutungsansätze, darunter orthodox-esoterische, hermeneutische, interpunktionsimmanente usw. Den Mann hatte ich vor Jahren gelesen, genauso den Grass, hier konnte ich mich durch eifriges Zitieren über die Runden bringen. Ein Problem stellten der Grimmelshausen und der Musil dar, vor allem letzterer, er hat 1000 Seiten und ich war über die ersten zwanzig nicht hinausgekommen. Also half nur googeln, zwei Tage lang suchte ich im Internet alles, was ich über Handlung, Umfeld, Werkgeschichte und Interpretation fand. Am Mittwoch fuhr ich mit einem etwas mulmigen Gefühl zur Prüfung und hoffte, dass mein gegenüber sich auch nicht die Mühe des Originaltextes gemacht hatte. Weit gefehlt!
Die Prüfung als Desaster zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus. Sie war eine Apokalypse, ein brennendes Troja, ein zweites Pompei, ein Goldauer Bergsturz. Googel und Wikipedia sind tolle Einrichtungen, aber sie erstzen eben nicht die genaue, fundierte Auseinandersetzung mit einer Sache. Und Sekundärliteratur heisst eben so, weil sie als Zweites, nach der Lektüre des Buches kommen sollte. Der Mann, der mir gegenüber sass, hatte alle Bücher mehrfach gelesen, er kannte Hintergründe und Deutungsansätze, er war in allen Epochen firm. Wie in einem Match gegen Roger Federer einem die gelben Bälle nur so um die Ohren fliegen würden, so flogen mir die Zitate und Textstellen um die Ohren. In einem Spiel gegen Kasparow wäre ich in fünf Zügen matt gewesen, hier ging die Qual aber eine geschlagene Stunde. Nach einer halben Stunde war ich so fertig, dass ich behauptete, der Trommler hiesse Castorp und Faust II würde in der Schweiz spielen. Ja, ich beharrte darauf, die Blechtrommel würde während des Dreissigjährigen Krieges spielen.
Schon am nächsten Tag kam eine Mail. Mit zitternden Händen öffnete ich sie:
Das Kantonsgymnasium Herisau streicht mich von der Liste seiner Experten.

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