Es mag Ihnen zunächst komisch vorkommen, nach einem Mozart gleich wieder einen Flyer für einen Beethoven in die Hand gedrückt zu kriegen und nach einer «Schöpfung» gleich wieder eine Werbung für die «Jahreszeiten», aber die Flyer-Verteiler machen genau das, was Ihnen im Internet ständig begegnet: Wenn Sie eine Badehose bestellen, werden Sie die nächsten Tage mit Werbung für Badepants und T-Shirts überschüttet.
Wo findet man die interessiertesten Konzertgänger? Natürlich vor einem Konzertgebäude, nach einem Konzert.
Es wäre natürlich viel publikumserweiternder, diese Flyer nach einem Boxwettkampf zu überreichen, aber die meisten Leute würden die ja gleich wegwerfen.
Ich nehme – weil ich ein netter Mensch bin – die Flyer immer an.
In letzter Zeit bekomme ich aber immer mehr Bedenken. Was, wenn man so viele Zettel bei mir findet? Zettel mit…
Ich traue mich das jetzt kaum hinzuschreiben: Zettel mit Kinderbildern. Eine Sammlung von aktuellen Konzertflyern wirkt dermassen pädophil, dass es einem angst und bange wird.
Und ich meine hier gar nicht die traditionellen Knaben- und Mädchenchöre, die Jugendmusiken und Jugendkapellen, ich meine nicht die singenden Schulklassen und spielenden Kinder, ich meine nicht Ensembles, die aus vielen unter 18jährigen bestehen, ich rede von den Solisten.
Da ist Yan Yung (11), der mit Beethoven Violinkonzert debütiert.
Da sind Iwan und Nadia Borowski (7 und 9), die Mozart-Sonaten spielen.
Da ist Mitsuko Tamaguta (10), die sämtliche Préludes von Debussy spielt.
Und das ist das «Sehr junge usbekische Streichquartett», das auf ein Durchschnittsalter (!!!) von zwölf Jahren kommt. Und welches – natürlich, was denn sonst? – die «Grosse Fuge» spielt.
Ich nehme also diese Zettel nur noch selten an, aber ich wundere mich.
Ich wundere mich.
Ich wundere mich: Wann hat das angefangen?
Der Stuttgarter Pianist Stefan Sprung, der Anfang der 80er Jahre bei Dennemarck in Karlsruhe studierte – das ist jetzt nicht erfunden – schloss sein Grundstudium mit einem Konzert ab, bei dem er sämtliche Etüden op. 10 spielte. (Für Nicht-Klassikfans: Das ist Chopin.) Damals war das eine absolute Sensation, nicht eine, nicht zwei, nicht die Schwarze-Tasten-Etüde ODER die Revolutionsetüde, oder – was schon toll gewesen wäre – Schwarze Tasten- PLUS Revolution, nein alle 12 Stück, inklusive Schwarze Tasten, Revolution und jener lyrischen E-Dur-Etüde, die der Banause nur als Schlager «In mir klingt ein Lied» kennt…
Heutzutage bieten die Kids sämtliche Etüden Chopins (also die zwölf op. 10 UND die zwölf op. 25) zur Aufnahmeprüfung an.
Zur Aufnahmeprüfung!
Zur Aufnahmeprüfung!
Angeblich – aber das sind nur Gerüchte – haben die Konservatorien in Asien zwei verschiedene Arten von Wickelräumen, in dem einen wickeln die Studenten und Studentinnen ihre Kinder, im anderen werden Studentinnen und Studenten von ihren Eltern gewickelt.
Das ist natürlich ein böses Gerücht, aber bei anderen Dingen ist es ja schon schwierig mit dem jugendlichen Alter der Künstler. Sehr oft wird in der Schweiz nach einem Auftritt zu einem Apéro geladen, man steht herum und trinkt Weisswein und isst Knabbersachen, man stösst mit dem Künstler oder der Künstlerin an. – Aber wer passt auf, dass Nadia Borowski oder Yan Yung nur Coca-Cola trinken und nicht etwa Champagner wie die Erwachsenen?
Es gibt doch so etwas wie Reife…
Wir reden zurzeit ja immer über KI und was der Mensch ihr voraushat. Nun, eine KI spielt eine Etüde rein technisch sicher genauso gut wie ein 11jähriger, nein besser, denn sie macht keine Fehler. Sie interpretiert auch genauso gut, wenn sie sich alle Aufnahmen des Lehrers des 11jährigen anhört. Das Genuine, das Reife, das Genialische, das Wunderbare, das erreicht sie nicht.
Nie. Niemals.
Und der Kinderstar noch nicht.
Wenn Sie ein Konzert besucht haben, und Sie streben dem Ausgang zu, dann stehen da manchmal Leute, die Zettel für andere Konzerte verteilen. «Flyern» nennt man das im Jargon, und es ist sehr üblich.
Ich nehme – weil ich ein netter Mensch bin – die Flyer immer an.
In letzter Zeit bekomme ich aber immer mehr Bedenken. Eine Sammlung von aktuellen Konzertflyern wirkt dermassen pädophil, dass es einem angst und bange wird.
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