Freitag, 8. November 2024

App gleich Tamagotchi

Lieber Leser, liebe Leserin, wissen Sie eigentlich noch, was ein Tamagotchi ist? Wenn Sie ein Gruftie sind, also über 50, dann wahrscheinlich ja. Für die Jungen, die Generationen Z, Z plus und Z zwei plus, hier noch einmal der Wikipedia-Eintrag:

Das Tamagotchi (Wortschöpfung aus tamago ‚Ei‘ und wottchi zu Englisch watch ‚Uhr‘; in Japan ursprünglich als „Tamagotch“ romanisiert) ist ein aus Japan stammendes Elektronikspielzeug von Bandai, das ab 1997 weltweit populär war
Die Tamagotchi stellen eine Rasse von Ausserirdischen dar, vom weit entfernten Planeten Tama, der angeblich „Millionen Meilen“ von der Erde entfernt ist, um die man sich vom Zeitpunkt des Schlüpfens an wie um ein echtes Haustier kümmern muss. Es hat Bedürfnisse wie Schlafen, Essen, Trinken, Zuneigung und entwickelt auch eine eigene Persönlichkeit. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten meldet sich das Tamagotchi und verlangt nach der Zuwendung des Besitzers. Bei Vernachlässigung stirbt es, kann jedoch durch Drücken eines Reset-Schalters zurückgesetzt werden, und das Spiel geht von vorne los. Dies ist in allen Versionen möglich, außer den ersten japanischen, die nur einen einzigen Lebenszyklus hatten und dann entsorgt werden mussten. Es wurden extra dafür auch eigene Friedhöfe und Telefon-Hotlines eingerichtet.

Ich hatte nie ein Tamagotchi. Ich hielt auch alle Typen, die ständig vom Gepiepse gestört wurden, und dann ihr Pseudo-Tier fütterten oder mit ihm kommunizierten, für bescheuert. Für absolut bescheuert.
Nun habe ich aber festgestellt, dass sich auf meinem Smartphone ca. 60 Neo-Tamagotchis tummeln.
Sie nennen sich Apps.

Die meisten meiner Apps sind situationsbezogene Werkzeuge.
So benütze ich den DB-Navigator, wenn ich eine Verbindung in Deutschland brauche, die VVS-App, wenn ich in meiner Heimatstadt unterwegs bin, die BVB-App, wenn ich wissen will, wann in Basel das nächste Tram kommt und für weitere Strecken in der Schweiz die App der SBB. Und für die Niederlande tippe ich auf NS – was nicht Nationalsozialismus, sondern Nationale Spoorwegen heisst.
Ich benütze eine Taschenlampen-App, wenn ich in einem dunklen Treppenhaus unterwegs bin. Ich benütze die Metronom-App, wenn ich das absolut genaue Tempo eines Musikstücks brauche.
Ich benütze die Stimmgabel-App, wenn ich einen bestimmten Ton haben muss (ich habe kein absolutes Gehör).
Ich komme nun aber, wenn ich in einem öffentlichen Bus sitze, nicht auf die Idee: «Hey, ich habe meine Taschenlampen-App schon lange nicht mehr benutz, und meine Metronom-App und meine Stimmgabel-App auch nicht, ich möchte ein bisschen Party machen.» Und dann schalte ich die Lampe an, leuchte meinem Gegenüber ins Gesicht, klimpere auf den Ton C, und das 100x hintereinander und lasse parallel das Metronom auf 150 ticken. (Für Nichtmusiker: Das ist sehr schnell, 150 Schläge pro Minute.)

Es kann also sein, dass ich eine App eine Weile, eine Woche, einen Monat, ja sogar ein Jahr nicht benutze. Das gefällt meinen Apps aber überhaupt nicht!
Wie die Tamagotchis, die gefüttert und liebgehabt werden wollten, melden sich meine Apps mit genau dem Gestus: Rolf, du hast mich einen Monat nicht mehr angeklickt! Rolf, hast du mich überhaupt noch lieb? Rolf, was ist los?
Die Tamagotchi-Masche zerfällt in drei Phasen:

Die Kreis-am-Quadrat-Phase
An dem Quadrat der App erscheint in der rechten oberen Ecke ein Kreis, der sich ein wenig mit dem Viereck überlappt. Bei SMS, WhatsApp und Mail heisst es natürlich, dass etwas angekommen ist, eine Nachricht, ein Dokument usw. Was aber heisst es bei einem Metronom oder bei einer Taschenlampe? Einfach, dass man meine Aufmerksamkeit will. Rolf, bemerke mich!

Die Neue-Funktionen-Phase
Ich erhalte eine Mail, eine SMS, was auch immer, die mir mitteilt, dass «neue Funktionen» zu haben sind. So könnte ich zum Beispiel das Licht der Taschenlampe auch in blau leuchten lassen. Oder die Stimmgabel von 1 bis 100000 Hertz gehen lassen. Völliger Schwachsinn, ich möchte es ja im dunklen Treppenhaus hell haben, und die Hertzzahlen liegen ausserhalb des Hörbereiches, aber darum geht es ja nicht. Es geht um meine Aufmerksamkeit.

Die Deinstallations-Phase
Ich erhalte die Meldung, dass man eine App, die man nicht benutzt, auch deinstallieren kann. Das ist ein bisschen wie die beleidigte Ehefrau in Filmen aus den 50er-Jahren, die «wieder zur ihrer Mutter» fährt.
So sagt die App: Ich kann ja auch gehen, wenn du mich nicht mehr brauchst…

Das Tamagotchi war ein Spielzeug des ausgehenden letzten und beginnenden neuen Jahrhunderts.
Ich hatte nie ein Tamagotchi. Ich hielt auch alle Typen, die ständig vom Gepiepse gestört wurden, und dann ihr Pseudo-Tier fütterten oder mit ihm kommunizierten, für bescheuert. Für absolut bescheuert.
Nun habe ich aber festgestellt, dass sich auf meinem Smartphone ca. 60 Neo-Tamagotchis tummeln.

Sie nennen sich Apps.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen