Dienstag, 1. Dezember 2020

Legasthenie die Dritte - noch einmal 4 schöne Verleser

Ach, warum verlese ich mich ständig? Sind es die Augen, brauche ich eine neue Brille? Ich glaube kaum, meine Augen sind noch gut, meine Dioptrien haben sich in den letzten Jahren nicht gross verändert, ich denke, es kann nicht an meinem Sehvermögen liegen. Warum verlese ich mich dann? Warum lese ich gewisse Buchstaben unkorrekt, warum drehe ich Wörter um, warum macht mein Hirn ständig andere Bedeutungen? Bin ich zu schusselig, zu tüddelig, zu unkonzentriert, bin ich mit meinen Gedanken immer im Wunderland, im Neverland, sind meine Neuronen mit Alice oder Peter Pan unterwegs und wenn ich dann einen Satz oder ein Wort lese, dann gibt es einen Un-Sinn? Ich weiss es nicht, aber es geschieht. Hat schon Catull gesagt: Nescio, sed fieri sentio et excrucior. Nun, gemartert werde ich dadurch nicht wirklich, aber manchmal nervt es ein wenig. Gut, aber dafür bieten meine Verleser immer wieder schöne Post-Vorlagen. Hier sind wieder einmal 4 ganz schöne:

DR NUMERO EIS CHLAUE
also «Die Nummer Eins klauen» lese ich im Kiosk. Es ist ein grosses Schild mit dem Bild des wohl beliebtesten Kaugummis in der Schweiz. Darunter sind mehrere Pappschalen mit einer Fülle dieser Kaugummis, in Mint, in Erdbeere, in Zimt, in Zitrone usw., usw. Ich stutze: Fordert man mich wirklich auf, Kaugummis zu stehlen? Ich habe noch nie etwas geklaut, keinen Kaugummi im Supermarkt und keine Unterhose im Kaufhaus, ich habe noch nie gestohlen, keinen Radiergummi in der Papeterie und keine Cola an der Tankstelle. Dies hat zwei Gründe: Meine Ehrlichkeit und meine Ungeschicklichkeit. Ich halte einerseits das Einhalten des Siebten Gebotes für eine gute Sache und andererseits weiss ich, dass ich erwischt, ertappt, geschnappt würde. Ich werde immer erwischt, ertappt, geschnappt, schon beim Lügen, man kommt mir auf die Schliche, also würde es beim Klauen sicher auch passieren. Ich weiss, dass man wegen des «Kicks» klaut, stiehlt, raubt, aber ich habe diesen «Kick» nie gebraucht. Aber wenn der Kiosk mich AUFFORDERT zu klauen, ist es dann überhaupt Diebstahl? Ist ein Diebstahl mit Erlaubnis nicht ein totaler Widerspruch? Eine Contradictio in Adiecto?
Aber natürlich steht da:
DR NUMERO EIS CHAUE («Die Nummer Eins kauen»)

FÜR GANZE KINDER ANHALTEN
lese ich auf einem Plakat am Bahnhof SBB. Für ganze Kinder? Was ist das? Und was sind dann «halbe Kinder»? Gut, man bezeichnet Kinder gerne etwas abwertend als «halbe Portionen», aber das wäre ja dann doppelt gemoppelt. Ich erkläre es mir eher so: Der Mensch, also auch das Kind, besteht ja aus Leib und Seele, Leib und Seele, die zusammengehalten werden müssen, zum Beispiel durch Brot und Wein, oder bei Kindern durch Pommes und Cola, denn man sagt ja «Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen». Ein ganzes Kind wäre dann ein Kind, bei dem die Seele noch im Körper steckt, ein halbes eines, das zum Teil nur noch Seele und zum anderen Teil nur noch Körper ist. Hiesse dann übersetzt: Wenn das Kind schon tot ist, brauchst du für den Körper nicht anhalten, und auch die Seele darfst du überfahren. Kann doch aber nicht sein? Niemand würde eine Kinderleiche überrollen und damit den gerade verstorbenen acht- oder neunjährigen Körper entstellen und schänden? Und bei der Seele? Kann man die überhaupt überfahren? Wahrscheinlich nicht. Nun lese ich noch einmal genau. Da steht nämlich:
FÜR KINDER GANZ ANHALTEN

ANCHORAGE – DRUCKGRAFIK UND ZEICHNUNG
lese ich auf einer Ankündigung der Galerie Trümpy-Holignano. Ich stutze und krame in meinem Hirn. Und werde fündig. Anchorage ist die grösste Stadt des US-Bundesstaats Alaska. Also Kunst aus dem ganz hohen Norden, aus dem Eis, aus der Kälte. Klingt spannend. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es im Nordstaat der USA eine rege Kunstszene gibt. Aber gut, scheint so zu sein. Was macht nun Alaska-Kunst aus? Ist sie eher weiss geprägt oder auch stark durch die indigenen Völker bestimmt? Ist Alaska-Kunst farbig, bunt und fröhlich, gerade als Ausgleich zu Schnee und Eis, oder nimmt sie eben Schnee und Eis in das Kunstwerk hinein, sodass es viel monochromes Weiss gibt, so wie bei Robert Ryman? Sicher ist, dass bei Minustemperaturen von 30 Grad Landschaftsfotografie und Landschaftsmalerei schwierig macht, wer guckt bei -50° gerne durch einen Sucher? Niemand, wahrscheinlich würde man sogar am Okular festfrieren. Wie kann ich mir nun Anchorage-Kunst vorstellen? Muss ich aber gar nicht, denn auf dem Zettel steht das Wort für eine Hängung, eine Ausstellung aus eigenen Beständen, die Galerie Trümpy-Holignano macht eine
ACCROCHAGE – DRUCK UND ZEICHNUNG

DEN EINKAUF HABEN WIR AUSSERBÖRSTLICH GETÄTIGT
schreibt mir meine Bank. Es schon verrückt, dass die mir bei jeder Aktie, die sie für meinen Altersfonds einkaufen, schreiben, aber man hat mir erklärt, dass sie das müssen. Zur Beruhigung für Sie, liebe Leserinnen und Leser: Ich habe einen Fonds gewählt, der sich auf KMU und Schweizer Unternehmen beschränkt, mein Geld steckt also nur indirekt in den grossen Schweinereien der Welt, nicht direkt in einem regenwaldvernichtenden US-Multi. Und Schwein bringt mich auf den Punkt: Meine Bank hat «ausserbörstlich» also «ausserhalb der Borsten» gekauft. Borsten. Schweine haben Borsten. Wenn nun die UBS hier ausserhalb ihrer Borsten agiert, dann heisst das dann doch ganz ehrlich: «Sonst sind wir Schweine. Sonst sind wir fiese und dreckige Schweine. Aber jetzt haben wir einmal einen anständigen Einkauf getätigt.» Aber würden sich Bänker selbst als Schweine bezeichnen? Nein. Denn da steht wirklich
DEN EINKAUF HABEN WIR AUSSERBÖRSLICH GETÄTIGT



 

 

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