Freitag, 27. November 2020

Die schrecklichen kleinen Entscheidungen

Mein Zug erreicht den Bahnhof Basel SBB. Ich klappe mein Buch zu, aber nicht ohne vorher das Leseband auf die aktuelle Seite zu legen, zusätzlich lege ich ein Buchzeichen hinein und klappe den Schutzumschlag um. Ich habe die Seite 54 von Himmel und Speck also dreifach markiert.
Der Mann, der mir gegenübersitzt, schaut mich mit grossen Augen an: «Also, einmal würde doch genügen.» Ich muss lachen: «Natürlich würde es das. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Manchmal hat es gar nix, dann lege ich sogar irgendeinen Kassenzettel hinein, aber gebundene Diogenes-Bücher sind schrecklich, da hat es Leseband UND Umschlag UND sie legen immer noch ein Kärtchen mit einem Spruch darauf hinein, und weil ich mich partout nicht entscheiden kann, benutze ich halt Leseband UND Umschlag UND Kärtchen.»
«Hmmmm», macht der Mann nur. «Was meinen Sie», fahre ich fort, «warum ich beim Italiener stets Insalata mista und Lasagne, beim Asiaten stets Flühlingslollen und ein Hühnchencurry und beim Griechen stets Dolmades und Moussaka bestelle?» Der Mann grinst: «Wahrscheinlich, weil das Lesen einer Speisekarte mit mehr als fünf Gerichten Sie vollständig überfordert?» «Weil ich mich nicht entscheiden könnte, also ist die Entscheidung immer schon vorher gefallen.»
Der Mann lacht: «Wenn ich so recht nachdenke, dann habe ich schon ähnliche Situationen erlebt. Neulich konnte ich mich einfach nicht entscheiden, ob ich vom Centralbahnplatz mit der Linie 2 über Kirschgarten zum Bankverein oder mit der 8, 10 oder 11 über den Aeschenplatz fahren sollte, immer stellte ich mir vor, wo eventuell ein interessantes Schaufenster wäre, das ich dann verpassen würde, wenn ich die andere Route nähme – am Ende bin gelaufen, und zwar nicht irgendein Tramgleis entlang, sondern quer durch die Gassen.
Und kürzlich verpasste ich eine Vernissage, weil ich nicht entscheiden konnte, ob ich mein weisses Yomahoto-Hemd oder meinen grünen La Hostique-Pulli anziehen soll…» «Eben, und da wäre einfach meine Methode, IMMER mit dem 2er zum Bankverein zu fahren und zu Vernissagen IMMER das Yomahoto-Hemd anzulegen.»
Wir lachen beide.

Inzwischen sind wir natürlich auf der Rolltreppe, aber wir sind nicht nur in Basel, sondern auch bei Du angelangt – welch schönes Zeugma – der neue Bekannte hat sich als Luryn vorgestellt. Ich lade Luryn auf einen Kaffee ins Blue Train ein, die Entscheidung fällt auch nicht schwer, weil ich immer ins Blue Train gehe.
Bei zwei Espressi kommen wir wieder auf unser Thema zurück. «Wenn du jetzt meinst», sage ich zu Luryn, «dass ich in meinem Leben so überhaupt nichts gebacken kriege, dann liegst du falsch. Alle grossen Entscheidungen habe ich in nullkommanix getroffen. Als ich 2018 kurz vor einem Burnout stand, da brauchte ich einen Tag, um zu sagen: Ab 2019 nur noch 60% schaffen. Und als mein Partner anrief und sagte, die Wohnung unter ihm werde frei, da sagte ich sofort zu – und ich hatte die Wohnung noch nicht einmal gesehen – er kannte sie allerdings.» Luryn grinst: «Das ist aber normal, grosse Entscheidungen treffen sich immer leichter.»

Hat Luryn recht? Sind grosse Entscheidungen wirklich immer leichter?
Vielleicht.

Stellen Sie sich einmal vor, Murgistan und Forgistan streiten sich um das 40 Quadratkilometer grosse Gebiet des Surkutales, in dem die Dörfer Ghu, Ghast, Gholl und Gham liegen. Nun müsste und könnte und sollte man viele kleine Entscheidungen treffen: Wird Ghu murgisisch und Ghast forgisisch oder umgekehrt? Was passiert mit Gholl und Gham? Soll man eventuell Unter-Gham und Ober-Gham teilen, immerhin liegt der obere Teil 400 Meter höher? Was geschieht mit dem Sirk-Wald und mit der Tigu-Heide? Und weil eben kleine Entscheidungen so schwierig sind, wird beschlossen, das Surkutal komplett einem der beiden Länder zuzuschlagen – dummerweise beschliessen das beide Staaten, Murgistan findet, es gehört ganz ihnen und Forgistan findet das auch. Ein langer und zäher Krieg beginnt, bei dem die marginale Bedeutung der Zone, die Dörflein Ghu, Ghast, Gholl und Gham haben alle weniger als 300 Einwohner und im Boden hat es zwar Nährstoffe für Mais und Saubohnen, aber keine Erze. Ja, und der letzte Tourist war vor 10 Jahren an der Surku.

Stellen Sie sich vor, da muss die Stadt Wirklingen sich um ihr vergammeltes Rathaus kümmern. Auch hier kippt eine ganze Wagenladung an Entscheidungen auf die Räte: Sind die Wasserleitungen noch zu retten? Was ist mit der Elektrizität? Soll die Wandmalerei des ortansässigen Künstlers Dolf Duder erhalten werden? Braucht es einen Ausbau des Ratsaales? Braucht es mehr Büros? Oder weniger?
Auch hier hat man keine Lust auf kleine Entscheidungen und trifft eine grosse: Kompletter Abriss und Neubau.

Und ein wenig ist es auch so bei Corona: Jedes Schutzkonzept ist eine Summe aus diversen Entscheidungen, jede Bestimmung sagt zu einer Sache ja und zu einer anderen Sache nein. Da könnte man sogar bei jedem Museum eine Extra-Entscheidung treffen. Da kann man dem Heimatmuseum, das zwar oft nicht gut besucht ist, in das sich aber einmal in der Woche eine Horde Rentner-Ausflügler ergiesst, eben diese Rentner verbieten, da kann man der Kunsthalle ihre Sammlung offen lassen, den nächsten Blockbuster (Pollock komplett – erwartete Besucher 20000) natürlich untersagen. Aber auch hier: Grosse Entscheidung. Alles dicht.

Luryn hat recht. Er ist ein kluger Mensch. Übrigens auch ein netter. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht und werden uns bald einmal treffen.
Die Frage ist nur wo.
Schon wieder so eine Entscheidung.


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