Freitag, 24. April 2020

Was bedeutet "zu mir oder zu dir" in zoom-Zeiten?


Sie alle kennen (vielleicht) die Situation: Man ist sich in einer Kneipe, in einem Club, man ist sich in einer Bar, bei einer Vernissage, ist sich in einer Disco, einem Tanzschuppen, bei einem Anlass nähergekommen, und nun beginnt es zu knistern, beginnt es zu vibrieren, es ist eindeutig, der Abend geht irgendwie weiter, wird zur Nacht und (vielleicht) sogar zum nächsten Morgen, ja es ist evident, dass man nun die Kneipe, den Club, dass man nun die Bar, die Vernissage, dass man die Disco, den Tanzschuppen, den Anlass verlassen muss, sich ein Taxi nehmen und …. fahren.
… ja eben.
Wohin?
Und nun erscheint die Frage, die ja schon fast legendär ist: „Zu mir oder zu dir?“ – „Your place or my place?“. Bei ihr ist vielleicht das Bett weicher, aber bei ihm die Bettwäsche schöner. Er hat vielleicht den besseren Rotwein, aber sie die edleren Gläser. Zu ihr ist es weiter, jetzt, aber am nächsten Morgen liegt die Wohnung näher an beiden Arbeitsstellen. Bei ihr hat es eventuell die idyllischere Beleuchtung, aber dafür hat es bei ihm etwas, was sicher von Nöten sein wird, etwas, was bei ihr gerade ausgegangen ist: Kondome.
Aber wie auch immer: Man wird sich entscheiden.
Zu mir oder zu dir? – Your place or my place?

In Corona-Zeiten ist die Frage die gleiche aber eine ganz andere.
Heute Meeting 17.00 – 345-67-09?, werde ich von Tim per Mail gefragt.
Und ich antworte ganz frech:
Sehr OK. Aber besser 567-09-35.
Und bekomme zur Antwort:
Bitte unbedingt 345-67-09.
Hier geht es nicht um Mobiliar oder Bewirtung, hier geht es nicht um Nähe zum Tram oder gar…Kondome. Es ist völlig Wurst, ob die Stühle bei Tim bequemer sind, ich werde auf meinem eigenen Stuhl sitzen, völlig egal, ob es bei Tim Kaffee und Kuchen gibt, ich werde ihn zwar mampfen sehen, aber wenn ich auch Kaffee und Kuchen möchte, dann muss ich diesen mir selber hinstellen. Es ist auch völlig schnurz und piepe, ob der Weg zu ihm eine Stunde wäre, ich muss diesen Weg nicht zurücklegen, und selbst WENN wir unser Meeting, das ein rein privates ist, ins Erotische ausdehnen wollten, Präservative würden wir auch beim heftiges Video-Sex nicht brauchen…

Nein.
Die Frage 345-67-09 oder 567-09-35 ist die Frage nach dem Host. Treffen wir uns „bei mir“, bin ich der Boss. (Nein, nicht der Seifenboss, der Meeting-Boss.) Ich könnte Tim eine Weile im Wartezimmer warten lassen, ich könnte ihn stummschalten, wenn er Unsinn redet, ich könnte ihm erlauben (oder verbieten) seinen Bildschirm zu zeigen. Und ich könnte ihn einfach wieder rausschmeissen. Bei ihm wäre es umgekehrt, er wäre Chef, ich müsste warten, ich könnte zum Schweigen gebracht werden und dürfte vielleicht auch nicht meinen Screen zeigen. Und er könnte mich mit einem Klick zum Teufel schicken.
Zu mir oder zu dir? Your place or my place?
567-09-35 oder 345-67-09?

Das Lustige ist, dass wir die Meetingräume inzwischen wirklich als „Räume“ begreifen. „Wann treffen wir uns?“ – allein diese Frage ist ja eigentlich nach Vor-Corona-Sprachregelung nicht korrekt. Bis zum Februar 2020 war „treffen“ physisch gemeint, von Angesicht zu Angesicht, mit körperlicher Nähe, mit Händeschütteln oder Umarmen. „Ich habe gestern Fred getroffen“ meinte nicht, ich habe mit ihm telefoniert oder gemailt – bis Corona. 
„Treffen“ heisst inzwischen zoomen.
Es ist auch lustig, dass mein Stimmbildner in der Online-Probe sagt, von den aktuell Anwesenden sei keiner bei ihm, er „gehe jetzt zu Gabi“. Das «ich gehe zu xy» bedeutete, dass man sich wusch und anzog, sich rasierte und frisierte, dass man AUS DEM HAUS ging und ein Tram oder Bus nahm, an einer bestimmten Haltestelle ausstieg und dann zur Wohnung von xy ging. Dies bedeutete es bis Ende Februar 2020. Jetzt heiss «ich gehe zu xy»: Ich klicke im Meeting 111-22-33 auf den Button MEETING VERLASSEN und logge mich neu bei 333-22-11 ein. Dabei verlässt man den eigenen Stuhl nicht. Gut, gewaschen und frisiert sollte man sein, auch angezogen, immerhin sind das ja alles Video-Tools…
Nein, es ist witzig, dass wir die Räume wirklich als Räume begreifen. Auch ich empfinde mich als irgendwo weg, irgendwo anders, wenn ich in einem meiner beiden Meeting-Räume bin, ja, ich habe sogar das Gefühl eines Ortswechsels, wenn ich von Rolf Herter 1 zu Rolf Herter 2 wandere, nein, nicht wandere, ich bleibe ja immer am PC sitzen.

Zu mir oder zu dir?
Your place or my place?
Die Frage ist von einer Lustfrage, einer Geschmacksfrage, einer Praktikabilitätsfrage oder sogar von einer Safer-Sex-Frage zu einer Machtfrage geworden.
Wer ist der Host? Und wer nur der Teilnehmer?

Also besuchen Sie mich bitte.
Ich komme nicht zu Ihnen. Ich will, dass Sie warten und ich will Sie stumm schalten können.

P.S.: Probieren Sie nicht die Nummern aus, die sind viel zu kurz, die alten zoom-Nummern waren neunstellig, die neuen sind (aus Sicherheitsgründen) elftstellig. Und meistens braucht es auch ein Passwort.


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