Freitag, 17. April 2020

Die Bücher-Mitnehm-Kisten


Wir machen jeden Nachmittag einen langen Spaziergang. Noch darf man das ja, das Wetter ist schön, und das bisschen Bewegung ersetzt unser sonst tägliches Bahnenziehen im Schwimmbad Muttenz, das ist nämlich zu, also natürlich nicht nur das Hallenbad Muttenz, sondern sämtliche Bäder in der Schweiz, nein, in ganz Europa.
Aber die Spaziergänge sind natürlich auch nicht zu verachten, ich entdecke Bauwerke und Strassen, ich entdecke Häuser, wunderschöne Pflanzen, entdecke Plätze und Quartiere meiner wunderbaren Wahlheimat Basel, die ich ohne Corona niemals kennengelernt hätte, ich glaube, wenn Corona noch eine Weile geht, dann kenne ich im Juli jedes Fenster in dieser Stadt. Ich würde natürlich jeden Spaziergang aufschreiben und die Texte einem Verlag anbieten, aber dafür bin ich einfach noch nicht bekannt genug, als Debut ist ein solches Spaziergang-Buch sicher Quatsch. Wenn man Capus oder Genazino heisst, dann lesen viele Menschen gerne über die Wege, die die Schriftsteller durch Olten (Der König von Olten) oder Frankfurt (Tarzan am Main) gehen.

Was ich auf meinen Spaziergängen aber auch immer wieder entdecke, sind Kisten mit Büchern, die auf den Gartenmauern oder auf dem Trottoir, die auf dem Briefkasten oder auf der Strasse stehen. Und die man mitnehmen kann. Und ich hatte gedacht, ich wäre originell und einfallsreich gewesen, dass ich mein Bücherregal aufgeräumt habe! Nein, war ich nicht. Scheinbar hat das jeder zweite Haushalt in Basel getan. Und wenn ich so auf die Kisten blicke, dann überlege ich mir, was die ausgemisteten, was die als überflüssig erachteten Bücher, was der Literaturausschuss, was der Bücherabfall, die Wortstoffsammlung über den Besitzer (nein, den ehemaligen Besitzer) aussagt.
Der erste Gedanke ist natürlich, dass eine Kiste, in der Flammen der Leidenschaft und Mord im Morgengrauen liegt, von einem Naja-Leser zeugt, wie umgekehrt Horkheimers Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Buddenbrooks oder Aus dem Leben eines Taugenichts von einem gebildeten, einem kultivierten, vielleicht sogar promovierten, gar habilitierten Leser erzählen. 

Dann aber denke ich, müsste es nicht genau umgekehrt sein? Ist nicht gerade das Wegschleudern von Schmalz und Schnulz, das Weggeben von Blut und Grauen ein Zeichen eines gebildeten, kultivierten, vielleicht sogar promovierten, gar habilitierten Lesers? Und würde ein solcher Kulturmensch den Frankfurter Schule-Klassiker, würde er den Mann und den Eichendorff einfach so auf die Strasse stellen? Und ist nicht die Kiste mit den hochwertigen Werken ein Zeichen eines Naja-Lesers, so nach dem Motto „hat man mir geschenkt, checke ich aber nich“?

Aber, wenn man nun noch einen Schritt weitergeht, merkt man, dass es vier Kategorien gibt, und dass die Kisten nun wiederum gar nichts über den Exbesitzer aussagen:

Kategorie 1 ist der Gar-nicht-Leser, die tägliche Lektüre einer Wurfzeitung oder die wöchentliche eines Klatschmagazins stillen den Hunger nach Wörtern und Sätzen vollauf, und dann bekommt man Bücher geschenkt, Flammen der Leidenschaft, Mord im Morgengrauen, Hitze der Liebe oder Blut muss fliessen und nun liegen diese Werke auf dem Wohnzimmertisch und haben ungute Eigenschaften: Sie sind zu kompliziert, zu lang, zu dick und haben viel zu viele Protagonisten. Also raus damit auf die Strasse.

Kategorie 2 ist der Naja-Leser. Er hat Schnulz und Schmalz und Thriller in seinem Büchergestell, entsorgt aber Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Buddenbrooks und Aus dem Leben eines Taugenichts in der besagten Kiste, schlicht und einfach, weil sie ihm zu wenig spannend sind. Es gibt bei Habermas keine einzige Schlägerei, bei Mann gibt es zwar mehrere Ehen, aber nie heissen Sex, und bei Eichendorff ist der Taugenichts ein romantischer Träumer und nicht – wie man ob des Titels erhofft hatte – ein junger Kerl mit viel Gewalt, Drogen und lauten Bikes. Also raus damit auf die Strasse.

Kategorie 3 ist der Kulturleser. Er hat eine erlesene Bibliothek, Büchnerpreisträger, Nobelpreisträger, Werke, die in der ZEIT oder der SÜDDEUTSCHEN besprochen werden. Aber von Zeit zu Zeit entdeckt man doch immer wieder Bücher, von denen man KEINE AHNUNG hat, wie sie einem ins Gestell gekommen sind. Wer hat einem den Schrott geschenkt? Oder hat man den Schund etwa gekauft? In welchem Zustand? Wie schlecht muss es einem mental gegangen sein, wenn man wirklich Flammen der Leidenschaft käuflich erworben hat? Egal, raus damit auf die Strasse.

Kategorie 4 ist der Hyperleser, er stellt Rilke und Hoffmannsthal, er stellt Adorno und Bernhard, stellt Mann, Böll und Brecht auf die Strasse, auf den Gartenzaun, aufs Trottoir oder den Briefkasten, weil er bessere Ausgaben von diesen Werken erworben hat. Würde ich ihn fragen, warum er dies oder jenes Werk einfach zum Mitnehmen hinstellt, würde er mich mitleidig ansehen und dann sprechen: „Wissen Sie wirklich nicht, dass xy seit einem Monat in einer Neuausgabe vorliegt, ganz neu durchgesehen und revidiert, dazu mit entscheidenden Dokumenten versehen und mit einem exzellenten Vorwort von Sigrid Löffler? Wissen Sie das wirklich nicht? Weiss doch jeder kultivierte Mensch, aber das sind Sie scheinbar nicht, auf keinen Fall sind Sie promoviert oder habilitiert.“ Womit er Recht hat, und ich ziehe den Schwanz ein und schleiche von dannen.

Auf jedem unserer Spaziergänge entdecken wir Kisten mit Büchern „ZUM MITNEHMEN“. Und ich hatte gedacht, ich wäre originell und einfallsreich gewesen, dass ich mein Bücherregal aufgeräumt habe! Nein, war ich nicht. Scheinbar hat das jeder zweite Haushalt in Basel getan.
Ja, und manchmal entdecke ich ein Buch und nehme es mit, und neulich wollte ich eines in mein Gestell platzieren, Ab morgen wird alles anders von Elke Heidenreich, und da war es schon da. Und damit haben wir den noch nicht erwähnten Fall, der bei allen 4 Kategorien vorkommen kann:

Die Doublette.

  
 

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