Wir machen jeden Nachmittag einen langen
Spaziergang. Noch darf man das ja, das Wetter ist schön, und das bisschen
Bewegung ersetzt unser sonst tägliches Bahnenziehen im Schwimmbad Muttenz, das
ist nämlich zu, also natürlich nicht nur das Hallenbad Muttenz, sondern
sämtliche Bäder in der Schweiz, nein, in ganz Europa.
Aber die Spaziergänge sind natürlich auch
nicht zu verachten, ich entdecke Bauwerke und Strassen, ich entdecke Häuser,
wunderschöne Pflanzen, entdecke Plätze und Quartiere meiner wunderbaren Wahlheimat
Basel, die ich ohne Corona niemals kennengelernt hätte, ich glaube, wenn Corona
noch eine Weile geht, dann kenne ich im Juli jedes Fenster in dieser Stadt. Ich
würde natürlich jeden Spaziergang aufschreiben und die Texte einem Verlag
anbieten, aber dafür bin ich einfach noch nicht bekannt genug, als Debut ist
ein solches Spaziergang-Buch sicher Quatsch. Wenn man Capus oder Genazino
heisst, dann lesen viele Menschen gerne über die Wege, die die Schriftsteller
durch Olten (Der König von Olten) oder Frankfurt (Tarzan am Main) gehen.
Was ich auf meinen Spaziergängen aber auch
immer wieder entdecke, sind Kisten mit Büchern, die auf den Gartenmauern oder
auf dem Trottoir, die auf dem Briefkasten oder auf der Strasse stehen. Und die
man mitnehmen kann. Und ich hatte gedacht, ich wäre originell und einfallsreich
gewesen, dass ich mein Bücherregal aufgeräumt habe! Nein, war ich nicht.
Scheinbar hat das jeder zweite Haushalt in Basel getan. Und wenn ich so auf die
Kisten blicke, dann überlege ich mir, was die ausgemisteten, was die als
überflüssig erachteten Bücher, was der Literaturausschuss, was der Bücherabfall, die
Wortstoffsammlung über den Besitzer (nein, den ehemaligen Besitzer) aussagt.
Der erste Gedanke ist natürlich, dass eine
Kiste, in der Flammen der Leidenschaft und Mord im Morgengrauen
liegt, von einem Naja-Leser zeugt, wie umgekehrt Horkheimers Strukturwandel
der Öffentlichkeit, die Buddenbrooks oder Aus dem Leben eines
Taugenichts von einem gebildeten, einem kultivierten, vielleicht sogar
promovierten, gar habilitierten Leser erzählen.
Dann aber denke ich, müsste es nicht genau
umgekehrt sein? Ist nicht gerade das Wegschleudern von Schmalz und Schnulz, das
Weggeben von Blut und Grauen ein Zeichen eines gebildeten, kultivierten,
vielleicht sogar promovierten, gar habilitierten Lesers? Und würde ein solcher
Kulturmensch den Frankfurter Schule-Klassiker, würde er den Mann und den
Eichendorff einfach so auf die Strasse stellen? Und ist nicht die Kiste mit den
hochwertigen Werken ein Zeichen eines Naja-Lesers, so nach dem Motto „hat man
mir geschenkt, checke ich aber nich“?
Aber, wenn man nun noch einen Schritt
weitergeht, merkt man, dass es vier Kategorien gibt, und dass die Kisten nun
wiederum gar nichts über den Exbesitzer aussagen:
Kategorie 1 ist der Gar-nicht-Leser, die
tägliche Lektüre einer Wurfzeitung oder die wöchentliche eines Klatschmagazins
stillen den Hunger nach Wörtern und Sätzen vollauf, und dann bekommt man Bücher
geschenkt, Flammen der Leidenschaft, Mord im Morgengrauen, Hitze
der Liebe oder Blut muss fliessen und nun liegen diese Werke auf dem
Wohnzimmertisch und haben ungute Eigenschaften: Sie sind zu kompliziert, zu
lang, zu dick und haben viel zu viele Protagonisten. Also raus damit auf die
Strasse.
Kategorie 2 ist der Naja-Leser. Er hat
Schnulz und Schmalz und Thriller in seinem Büchergestell, entsorgt aber Strukturwandel
der Öffentlichkeit, die Buddenbrooks und Aus dem Leben eines
Taugenichts in der besagten Kiste, schlicht und einfach, weil sie ihm zu
wenig spannend sind. Es gibt bei Habermas keine einzige Schlägerei, bei Mann
gibt es zwar mehrere Ehen, aber nie heissen Sex, und bei Eichendorff ist der
Taugenichts ein romantischer Träumer und nicht – wie man ob des Titels erhofft
hatte – ein junger Kerl mit viel Gewalt, Drogen und lauten Bikes. Also raus
damit auf die Strasse.
Kategorie 3 ist der Kulturleser. Er hat
eine erlesene Bibliothek, Büchnerpreisträger, Nobelpreisträger, Werke, die in
der ZEIT oder der SÜDDEUTSCHEN besprochen werden. Aber von Zeit zu Zeit
entdeckt man doch immer wieder Bücher, von denen man KEINE AHNUNG hat, wie sie
einem ins Gestell gekommen sind. Wer hat einem den Schrott geschenkt? Oder hat
man den Schund etwa gekauft? In welchem Zustand? Wie schlecht muss es einem
mental gegangen sein, wenn man wirklich Flammen der Leidenschaft
käuflich erworben hat? Egal, raus damit auf die Strasse.
Kategorie 4 ist der Hyperleser, er stellt
Rilke und Hoffmannsthal, er stellt Adorno und Bernhard, stellt Mann, Böll und
Brecht auf die Strasse, auf den Gartenzaun, aufs Trottoir oder den Briefkasten,
weil er bessere Ausgaben von diesen Werken erworben hat. Würde ich ihn fragen,
warum er dies oder jenes Werk einfach zum Mitnehmen hinstellt, würde er mich
mitleidig ansehen und dann sprechen: „Wissen Sie wirklich nicht, dass xy seit
einem Monat in einer Neuausgabe vorliegt, ganz neu durchgesehen und revidiert,
dazu mit entscheidenden Dokumenten versehen und mit einem exzellenten Vorwort
von Sigrid Löffler? Wissen Sie das wirklich nicht? Weiss doch jeder kultivierte
Mensch, aber das sind Sie scheinbar nicht, auf keinen Fall sind Sie promoviert
oder habilitiert.“ Womit er Recht hat, und ich ziehe den Schwanz ein und
schleiche von dannen.
Auf jedem unserer Spaziergänge entdecken
wir Kisten mit Büchern „ZUM MITNEHMEN“. Und ich hatte gedacht, ich wäre
originell und einfallsreich gewesen, dass ich mein Bücherregal aufgeräumt habe!
Nein, war ich nicht. Scheinbar hat das jeder zweite Haushalt in Basel getan.
Ja, und manchmal entdecke ich ein Buch und
nehme es mit, und neulich wollte ich eines in mein Gestell platzieren, Ab
morgen wird alles anders von Elke Heidenreich, und da war es schon da. Und
damit haben wir den noch nicht erwähnten Fall, der bei allen 4 Kategorien
vorkommen kann:
Die Doublette.
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