Der
Autofahrer sieht mich über den Zebrastreifen laufen. Ist auch nicht so
schwierig, es ist heller Tag und ich trage eine knallorange Jeans. Dennoch
scheint er irgendwie zu schlafen, er verringert sein Tempo in keinster Weise,
macht dann eine Michael Schumacher-verdächtige Vollbremsung und kommt
quietschend exakt, und wenn ich schreibe exakt, dann meine ich exakt am
Zebrastreifen zu stehen. Ich zeige ihm den Stinkefinger. Wütend kurbelt er das
Fenster herunter und schreit mich an: «Was soll das, ich habe doch gebremst!»
Ja, hast du. Du hast gebremst, aber in einer Art und Weise, die
mir zeigen soll: Eigentlich tue ich das nur widerwillig, ich würde lieber
weiterfahren und dich auf die Schippe nehmen, deinen Körper durch die Luft
wirbeln und dich töten, weil du mir 30 Sekunden stiehlst und das ist – time is
money – bei meinem Stundenlohn viel Geld.
Ich frage
die Frau am Kiosk ob Sie mir auf einen Hunderter herausgeben kann. Ziemlich
doof, wenn man nur einen Kaugummi für 70 Rappen kauft, aber manchmal passiert
das eben: Man hat kein Kleingeld. Sie seufzt. Sie seufzt in einer Art und
Weise, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe. Meine Grosstante hat so
geseufzt, wenn ihr beim Stricken 7 Maschen gleichzeitig herunterfielen und im
selben Moment die Kaffeetasse umkippte. Meine Primarlehrerin hat so geseufzt,
wenn ich es wieder nicht schaffte, ein A oder T oder Z in schöner
Schreibschrift zu schreiben. (Schaffe ich bis heute nicht…). Es ist das Seufzen
der Kassandra vor dem brennenden Troja, das Seufzen der Ariadne beim Anblick
des abfahrenden Theseus-Schiffes. «Ich kann auch irgendwo wechseln gehen»,
schlage ich der Kioskmadame vor. «Wieso? Ich wechsele Ihnen doch!»
Ja, tust du. Du wechselst, aber in einer
Art und Weise, die mir zeigen soll: Eigentlich tue ich das nur unter grösstem
Zwang, eigentlich hasse ich Sie, wünsche Sie zum Teufel und verdamme Sie, weil
Sie mir mein ganzes Wechselgeld rauben und ich am Nachmittag wieder zur Bank
muss.“
Ich schreibe einem Mitarbeiter, er möge
mir doch noch die zwei Protokolle, die drei Listen und die vier Fotos schicken.
Nach zwei Stunden kommt ein Foto. Nach weiteren Stunden kommen zwei weitere. Am
nächsten Tag kommt das erste Protokoll. So geht es weiter, bis ich nach einer
Woche alle geforderten Sachen zusammenhabe. Ich maile ihm und frage, ob wir ein
Problem mit einander hätten. Seine erstaunte Antwort: Wieso? Er habe mir doch
alles gesendet.
Ja, hat er. Aber auch er in einer Art und
Weise, die besagt: Gerne tue ich das nicht. Du stiehlst mir meine Zeit, du bist
nervig, ich habe Besseres zu tun (was denn?), du musst alles sofort haben. (Die
Unterlagen waren übrigens überfällig.)
Muss ich noch von dem Kellner erzählen,
der mir meinen Wunsch nach ein wenig Extrasauce erfüllt, aber das Schälchen in
einer solch beeindruckenden Langsamkeit bringt, dass ich mein Fleisch schon
verzehrt habe?
Muss ich vom Zugschaffner berichten, der
mir eine Verbindung heraussucht und dabei wieder so seufzt wie meine
Grosstante?
Ich hasse das, ich hasse nichts so sehr
wie Menschen, die mir meinen Wunsch erfüllen, aber mir gleichzeitig zeigen, wie
ungelegen und blöd mein Begehren für Sie ist.
Der Autofahrer könnte mir auch ein Zeichen
geben und durchrasen, vom Gesetz her zwar nicht, aber realiter schon. Dann wäre
ich zwar auch verdutzt, wüsste aber: Hier ist jemand so was von zu spät dran,
da geht Anhalten echt nicht.
Die Kioskverkäuferin könnte mir sagen,
dass Wechseln nicht geht, vielleicht bin ich wirklich der x-te Kunde, der
Kleinigkeiten kauft und ihr einen 100-, 200- oder 500-Schein hinstreckt.
Der Mitarbeiter könnte – nein, könnte er
nicht, er untersteht mir in direct supply, aber er könnte schreiben: Sorry bin
im totalen Stress – schicke es morgen.
Der Kellner könnte mich darauf hinweisen,
dass bei einem Lunchmenu für 13,50.- ich mit der Saucenration zufrieden sein
soll, und er hätte damit sogar Recht.
Und der Schaffner? Er könnte lügen, das
Internet oder Intranet, das Netzwerk oder Network würde nicht funktionieren,
eine kleine Lüge wäre mir immer noch lieber.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten ist
meistens mit dem schönen Begriff „aufreizende Langsamkeit“ verbunden, ein
Begriff, dessen originale Herkunft ich nicht exakt eruieren konnte, der aber
alt sein muss, weil er schon bei Jack London auftritt.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor,
wenn der Kommunalpolitiker sagt, man habe doch etwas für den ÖV gemacht, man
habe 197 Meter neue Tramlinien verlegt und die Preise würden im nächsten Jahr
nicht steigen.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor,
wenn Trump den Klimawandel leugnet – und das im Angesicht von Greta – und sich
dann grosszügig am Baumpflanzen beteiligt.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor,
wenn das Parlament meint, es tue jetzt doch wirklich etwas gegen die
Altersarmut, für jede Bürgerin und für jeden Bürger erhöhe sich die Rente ab
2022 um 1 Euro.
Wo sind die grossen, die mutigen, die
schnellen, wo sind die bewegenden und couragierten Lösungen?
Der
Autofahrer sieht mich über den Zebrastreifen laufen. Trotzdem scheint er
irgendwie zu dösen, er verringert sein Tempo nicht und kommt mit einer
Vollbremsung exakt, genau, kommt präzis und errechnet am Zebrastreifen zu
stehen.
Mich umfahren
wäre wenigstens ehrlich gewesen.
Na, dann hab ich ja alles richtig gemacht 😅💞
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