Dienstag, 18. Februar 2020

Bitte mir nicht zeigen, wie ungern Sie etwas machen!


Der Autofahrer sieht mich über den Zebrastreifen laufen. Ist auch nicht so schwierig, es ist heller Tag und ich trage eine knallorange Jeans. Dennoch scheint er irgendwie zu schlafen, er verringert sein Tempo in keinster Weise, macht dann eine Michael Schumacher-verdächtige Vollbremsung und kommt quietschend exakt, und wenn ich schreibe exakt, dann meine ich exakt am Zebrastreifen zu stehen. Ich zeige ihm den Stinkefinger. Wütend kurbelt er das Fenster herunter und schreit mich an: «Was soll das, ich habe doch gebremst!»
Ja, hast du. Du hast gebremst, aber in einer Art und Weise, die mir zeigen soll: Eigentlich tue ich das nur widerwillig, ich würde lieber weiterfahren und dich auf die Schippe nehmen, deinen Körper durch die Luft wirbeln und dich töten, weil du mir 30 Sekunden stiehlst und das ist – time is money – bei meinem Stundenlohn viel Geld.

Ich frage die Frau am Kiosk ob Sie mir auf einen Hunderter herausgeben kann. Ziemlich doof, wenn man nur einen Kaugummi für 70 Rappen kauft, aber manchmal passiert das eben: Man hat kein Kleingeld. Sie seufzt. Sie seufzt in einer Art und Weise, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe. Meine Grosstante hat so geseufzt, wenn ihr beim Stricken 7 Maschen gleichzeitig herunterfielen und im selben Moment die Kaffeetasse umkippte. Meine Primarlehrerin hat so geseufzt, wenn ich es wieder nicht schaffte, ein A oder T oder Z in schöner Schreibschrift zu schreiben. (Schaffe ich bis heute nicht…). Es ist das Seufzen der Kassandra vor dem brennenden Troja, das Seufzen der Ariadne beim Anblick des abfahrenden Theseus-Schiffes. «Ich kann auch irgendwo wechseln gehen», schlage ich der Kioskmadame vor. «Wieso? Ich wechsele Ihnen doch!»
Ja, tust du. Du wechselst, aber in einer Art und Weise, die mir zeigen soll: Eigentlich tue ich das nur unter grösstem Zwang, eigentlich hasse ich Sie, wünsche Sie zum Teufel und verdamme Sie, weil Sie mir mein ganzes Wechselgeld rauben und ich am Nachmittag wieder zur Bank muss.“

Ich schreibe einem Mitarbeiter, er möge mir doch noch die zwei Protokolle, die drei Listen und die vier Fotos schicken. Nach zwei Stunden kommt ein Foto. Nach weiteren Stunden kommen zwei weitere. Am nächsten Tag kommt das erste Protokoll. So geht es weiter, bis ich nach einer Woche alle geforderten Sachen zusammenhabe. Ich maile ihm und frage, ob wir ein Problem mit einander hätten. Seine erstaunte Antwort: Wieso? Er habe mir doch alles gesendet.
Ja, hat er. Aber auch er in einer Art und Weise, die besagt: Gerne tue ich das nicht. Du stiehlst mir meine Zeit, du bist nervig, ich habe Besseres zu tun (was denn?), du musst alles sofort haben. (Die Unterlagen waren übrigens überfällig.)

Muss ich noch von dem Kellner erzählen, der mir meinen Wunsch nach ein wenig Extrasauce erfüllt, aber das Schälchen in einer solch beeindruckenden Langsamkeit bringt, dass ich mein Fleisch schon verzehrt habe?
Muss ich vom Zugschaffner berichten, der mir eine Verbindung heraussucht und dabei wieder so seufzt wie meine Grosstante?

Ich hasse das, ich hasse nichts so sehr wie Menschen, die mir meinen Wunsch erfüllen, aber mir gleichzeitig zeigen, wie ungelegen und blöd mein Begehren für Sie ist.
Der Autofahrer könnte mir auch ein Zeichen geben und durchrasen, vom Gesetz her zwar nicht, aber realiter schon. Dann wäre ich zwar auch verdutzt, wüsste aber: Hier ist jemand so was von zu spät dran, da geht Anhalten echt nicht.
Die Kioskverkäuferin könnte mir sagen, dass Wechseln nicht geht, vielleicht bin ich wirklich der x-te Kunde, der Kleinigkeiten kauft und ihr einen 100-, 200- oder 500-Schein hinstreckt.
Der Mitarbeiter könnte – nein, könnte er nicht, er untersteht mir in direct supply, aber er könnte schreiben: Sorry bin im totalen Stress – schicke es morgen.
Der Kellner könnte mich darauf hinweisen, dass bei einem Lunchmenu für 13,50.- ich mit der Saucenration zufrieden sein soll, und er hätte damit sogar Recht.
Und der Schaffner? Er könnte lügen, das Internet oder Intranet, das Netzwerk oder Network würde nicht funktionieren, eine kleine Lüge wäre mir immer noch lieber.

Das Ich-mache-es-doch-Verhalten ist meistens mit dem schönen Begriff „aufreizende Langsamkeit“ verbunden, ein Begriff, dessen originale Herkunft ich nicht exakt eruieren konnte, der aber alt sein muss, weil er schon bei Jack London auftritt.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor, wenn der Kommunalpolitiker sagt, man habe doch etwas für den ÖV gemacht, man habe 197 Meter neue Tramlinien verlegt und die Preise würden im nächsten Jahr nicht steigen.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor, wenn Trump den Klimawandel leugnet – und das im Angesicht von Greta – und sich dann grosszügig am Baumpflanzen beteiligt.
Das Ich-mache-es-doch-Verhalten liegt vor, wenn das Parlament meint, es tue jetzt doch wirklich etwas gegen die Altersarmut, für jede Bürgerin und für jeden Bürger erhöhe sich die Rente ab 2022 um 1 Euro.
Wo sind die grossen, die mutigen, die schnellen, wo sind die bewegenden und couragierten Lösungen?

Der Autofahrer sieht mich über den Zebrastreifen laufen. Trotzdem scheint er irgendwie zu dösen, er verringert sein Tempo nicht und kommt mit einer Vollbremsung exakt, genau, kommt präzis und errechnet am Zebrastreifen zu stehen.
Mich umfahren wäre wenigstens ehrlich gewesen.




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