Freitag, 26. Juli 2019

Der Mond


Mit vier Jahren zerrte man mich aus meinem Bett und setzte mich auf das Sofa vom Ehepaar Bolay. Tante und Onkel Bolay (wie ich sie nannte) besassen den einzigen Fernseher im Haus und man war der Meinung, in diesem Gerät erschiene etwas, was der kleine Rolf nicht verpassen dürfte. Ich starrte die ganze Zeit in das schwarzweisse Geflimmer und weinte, weinte, weil ich müde war, weil ich zurück ins Bett wollte, weinte, weil ich den Sinn dieser Aktion nicht verstand.

Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich die Mondlandung geguckt hatte und dass wahrscheinlich die berühmten Schritte von Armstrong eine der ersten realen Erinnerungen sind, die ich habe – alle anderen, die aus den ersten Lebensjahren, sind ja keine echten. Inzwischen weine ich nicht mehr, wenn ich mir die berühmten Bilder ansehe, ich bin 54, da weint man bei anderen Sachen, ich weine nicht mehr, aber den Sinn der Aktion habe ich auch nach 50 Jahren noch nicht verstanden.

Oh, bitte! Kommen Sie mir nicht mit dem Teflon® und dem Kugelschreiber und so Sachen, mit allen den Dingen, die wir der Weltraumfahrt verdanken! Man hätte das Teflon® auch erfinden können, ohne Milliarden für eine Reise zum Erdtrabanten auszugeben; das wäre ja wie wenn jemand sich ein Ticket für die Eröffnungspremiere auf dem Grünen Hügel besorgt, damit er endlich mal zum Friseur geht und sich eine neue Hose kauft, einen Termin bei Coiffure Giacomo® kann er auch ohne Wagner machen und Hosen hat es in der Stadt genug, da muss man nicht zu Tannhäuser. Das wäre genauso, wie wenn jemand eine Reise nach Usbekistan bucht, damit er endlich seinen Pass verlängert oder wie wenn jemand den Umzugswagen bestellt, weil er sonst die Fenster putzen müsste.
Ich habe den Sinn der Mondladung nie verstanden und ich werde ihn auch nie verstehen. Ich weine nicht mehr, nein, das Flennen hat aufgehört, aber ich stehe der Aktion genauso ratlos, genauso baff, stehe ihr genauso skeptisch und zögernd gegenüber wie 1969.

Das Groteske ist, dass ja auf einmal wieder über Flüge zum Mond geredet wird, und die beiden alten Konkurrenten haben Konkurrenz bekommen: Nicht nur die USA und die Russkis wollen zu Frau Luna, nein auch Indien und (natürlich! natürlich! natürlich!) China. Habe ich jemand vergessen? Übersehen? Oder sind die Weltraumprogramme von Korea, Iran und Irak noch im Geheimen? Warum plant man eigentlich nicht ein gemeinsames Programm, wenn man schon den verrückten Gedanken einer erneuten Mondlandung pflegt? Wäre doch logisch – aber logisch ist in dieser Welt ja eh nichts.

Das Beste für die Welt wäre es natürlich, wenn man einen Staat damit beauftragte, eine Mondfahrt zu planen, zu organisieren und durchzuführen. Dieser Staat würde in einem UNO-Mandat die Jubiläumsreise verantworten. Dieser Staat müsste ein neutraler und unverdächtiger sein – und er müsste Geld haben.
Sie ahnen, von welchem Land ich rede?
Von den Eidgenossen natürlich.
Wäre das nicht wunderschön? Die Schweizer auf dem Mond? «E chlii Schritt für e Mönsch, e grosser Schritt für d’Mönscheit»? Einziges Problem ist es, dass bevor wir die Raketenabschussrampe zwischen Eiger, Mönch und Jungfrau errichten können, die Bevölkerung noch abstimmen müsste, denn in der Eidgenossenschaft herrscht Volksdemokratie, und die Erfahrung hat gezeigt, dass die Walliser, Bündner und Tessiner, dass die Zürcher, Luzerner und Basler, dass die Aar- und Thurgauer, Genfer und Jurassier, Urner und Schwyzer Grossprojekten skeptisch gegenüber stehen. Es wäre also viel Überzeugungsarbeit nötig, um Regionen, die nicht einmal Olympia wollten, ein Raketenprogramm schmackhaft zu machen…

Vielleicht ist es aber auch anders:
Geheimdokumente belegen, dass Donald Trump auf dem Mond einen 51. Bundesstaat einrichten will, in den er Meckerer und Motzer schicken will – besser gesagt: Meckerinnen und Motzerinnen. Da man Damen, die nach seiner Ansicht «Amerika hassen», ja nicht einfach «heimschicken» kann – sie sind dummerweise US-Bürgerinnen – kann man ihnen vielleicht einen Wohnsitz im neuen Bundesstaat «Moon» nahelegen. Man müsste es nur so formulieren, dass es eine Ehre ist.     

1969 riss man mich aus meinem Bett und setzte mich auf die Couch des Ehepaars Bolay. Nenntante und Nennonkel Bolay besassen den einzigen Fernseher im Haus und man war der Ansicht, in diesem Gerät erschiene etwas, was der kleine Rolf nicht verpassen dürfte. Ich weinte die ganze Zeit, weil ich wieder in die Heia wollte, weil das Geflimmer keinen Sinn machte, weil alles so verschwommen und undeutlich war, ich weinte, weil ich müde war und nicht schlafen durfte. Ich weinte, weil ich den Sinn der Aktion nicht verstand.

Ich weine nicht mehr.

Aber ich habe den Sinn der Aktion auch nach 50 Jahren nicht verstanden. 

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