Dienstag, 13. November 2018

Wann verliert man das Prädikat "gut"?


Ach, diese Eisenbahn! Was habe ich in letzter Zeit wieder an Unmöglichkeiten erlebt! Zugausfälle, Wartezeiten, gestopftvolle Züge, Rennerei auf den Bahnsteigen… usw., usw.,
Nun werden Sie sich sagen, na ja, das ist jetzt nicht besonders originell, DB-Schelte lockt als Glossenthema keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.

Aber ich rede doch gar nicht von der DB, ich rede von der SBB.
Bevor Sie jetzt Luft holen, um mir zu widersprechen – und ich weiss genau, was Sie sagen wollen – lassen Sie mich noch ein paar Beispiele bringen.

Am Dienstag, 30.10. fuhr ich von Solothurn über Moutier nach Basel. Der Bummelzug nach Moutier blieb dann in Cremines stehen, um einen Gegenzug abzuwarten, die Strecke ist einspurig, nach 10 Minuten erschien dieser dann endlich, wir erreichten den Umsteigepunkt mit 10 Minuten Verspätung und nur die ebenfalls eingetroffene Verspätung des IC nach Basel rettete mich vor einer öden Stunde bei einem öden Kaffee im öden Bahnhofscafé. Diesen öden Kaffee im öden Restaurant trank ich dann am nächsten Morgen, weil der Zug von Basel zu spät war…
Zum Glück bin ich kein Pendler auf der Strecke Bern-Zürich, dort fuhren 4 Tage lang überhaupt keine Schnellzüge, weil das Stellwerk einen Totalausfall hatte; können Sie sich vorstellen, wenn alle IC-Passagier auf die S-Bahnen gehen? Es waren japanische Verhältnisse, nur dass die SBB keine Pusher hat, die die Fahrgäste in die Wagen stossen…

Aber Sie holen ja schon die ganze Zeit Luft, nun sagen Sie endlich den Satz, auf den wir alle warten:
«Ausnahmen, die SBB ist zuverlässig.»

Ja, das ist das Prädikat der SBB und es ist erstaunlich, wie lange wir an Prädikaten festhalten, wahrscheinlich werden wir in 5 Jahren, wenn beide Bahngesellschaften eine Pünktlichkeit von 65% erreichen, immer noch an der Klassifizierung «DB: mies» und «SBB: gut» festhalten.

Aber nehmen wir doch ein anderes Beispiel: das Prädikat «Volkspartei». Eine Volkspartei war früher eine Partei, die zwischen 30% und 45% lag, also ein breites Spektrum der Bevölkerung repräsentierte, daneben gab es «Kleine Parteien», die um die 10% lagen und «Splitterparteien», solche, die stets um den Einzug in die Parlamente kämpften. In Namen: CDU und SPD waren die beiden Volksparteien, der Rest war «klein» oder «Splitter». Das hat sich längst geändert. Warum eine im Totalsinkflug begriffene Gruppierung wie die deutschen Sozialdemokraten sich noch Volkspartei nennen, ist nicht zu fassen, bei der CDU sieht es ähnlich aus, die Grünen WÄREN längst eine Volkspartei, wenn sie sich so nennen würden und in manchen Gegenden sieht es bei den LINKEN und der AfD auch sehr danach aus. Die FDP hat wurde nie Splitterpartei genannt, obwohl sie in etlichen Wahlen an der 5%-Hürde scheiterte.
In Wirklichkeit gibt es gar keine Volksparteien mehr, sondern sechs ernstzunehmende Parteien, die – je nach Bundesland und Wahlzeitpunkt – gut oder schlecht abschneiden, wir aber halten an den alten Prädikaten fest.

Genauso heikel (oder noch heikler) ist es mit Begriffen wie «Sicheres Drittland». Da hat man z.B. das Königreich Ghomal als Sicheres Drittland erklärt, Flüchtlinge können also dorthin wieder abgeschoben werden. Dann verkündet Tpoi XXII von Ghomal die Wiedereinführung der Todesstrafe für Schwule – und bleibt Sicheres Drittland, es werden die Abgeschobenen ja nicht gerade homosexuell sein; dann schafft Tpoi XXII die Pressefreiheit ab und bleibt Sicheres Drittland, und er bleibt es auch, wenn Amnesty International von Folterungen berichtet…

Prädikate.
Sie gelten als aufgestellt, zuverlässig, charmant und anständig?
Glückspilz!
Sie müssen etliches anstellen, um nicht mehr als das zu gelten, erst wenn Sie den Chef beleidigt haben UND 20 Mal zu spät gekommen sind UND 1000 Franken unterschlagen haben, wird man nach einer Weile nicht mehr so von Ihnen reden.
Sie gelten als mieslaunig, unzuverlässig, rüpelhaft und kriminell?
Unglücksrabe!
Sie können ein Jahr lang an jeden Kollegengeburtstag denken UND zehn Aufgaben freiwillig dazunehmen UND im Kaffeeräumchen für Milch und Zucker sorgen UND 45 Überstunden machen, dann redet man VIELLEICHT von Ihnen besser, aber vorher nicht.

Wir tun uns so schwer, einen verliehenen Titel wieder abzuerkennen. Ein Luxushotel-Führer testete einmal ein Traditionshaus an der Schwarzwaldhochstrasse (Story ist wahr!) und stellte dabei erstaunliche Mängel fest, Betten nicht gemacht, Flecken am Waschbecken, fehlende Handtücher usw. Fakt ist, dass der Redaktionsleiter beim Hotelmanager anrief und ihm eine zweite Chance gab, die Chance ein Prädikat zu behalten, dass einem neuen Haus bei solchen Schweinereien gar nicht verliehen worden wäre.

Ich muss schliessen.
Mein Zug kommt.
Und jetzt fragen Sie bitte nicht, wo ich schreibe.
IM ÖDEN BAHNHOFSCAFÉ IN MOUTIER!  

   

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