Kennen Sie
die Porpelsheim-Drüse?
Nicht? Aber
da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten
Leute kennen dieses Organ nicht.
Die
Porpelsheim-Drüse, erst 1953 durch den Bielefelder Biologen Herbert Porpelsheim
(1913 – 1999) entdeckt, ist ein winziger kleiner Lappen irgendwo zwischen
Gross- und Kleinhirn, der aber eine ungemein wichtige Funktion erfüllt: Er
schüttet das ebenfalls durch Porpelsheim entdeckte Hormon Pietomin aus, das für
das Gefühl von Mitleid verantwortlich ist.
Sie kennen
das sicher: Sie sehen ein Bild von einer Naturkatastrophe, ein Foto aus der
Dritten Welt, Sie blicken aus einen Toten oder einen Verhungernden, Sie hören
von Leid und Schmerz in der Nachbarschaft und auf einmal werden Sie von einer
Welle von Mitleid überflutet. Jetzt kann man das psychologisch erklären, aber
eben auch physiologisch: Ihre Porpelsheim-Drüse wird aktiv und schickt Unmengen
von Pietomin in den Blutkreislauf. Bestimmte Gewürze fördern extrem die
Pietomin-Produktion, zum Beispiel Zimt, Nelken und Anis, und dies erklärt,
warum wir in der Weihnachtszeit so viel spenden. Wundern Sie sich also nicht,
wenn Sie beim Besuch des Weihnachtsmarktes nach zwei Gläsern Glühwein und drei
Lebkuchen auf einmal Pate oder Patin eines dreijährigen Mädchens in Guatemala
werden, das Pietomin hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet.
2008 machte
der Londoner Humanbiologe Prof. Dr. James Hackerby eine Entdeckung, die seit diesem
Jahr als Hackerby-Phänomen bezeichnet wird: Im Alter (aber schon ab ca. 50)
lässt die Produktion von Pietomin rapide nach, bei Menschen über 80 ist die
Porpelsheim-Drüse praktisch untätig. Und Sie mögen es glauben oder nicht, auch
ich kann das Hackerby-Phänomen schon bei mir beobachten.
Anders
ausgedrückt, mein Mitleid schwindet.
Da erblicke
ich ein Plakat, mit dem eine Organisation für Körperbehinderte mein Geld
erbittet und ich lese von dem jungen Mann, der beim Parcour (das ist diese
Sportart, bei der man quer durch die Stadt springt und hüpft) schwer
verunglückt ist: Er landete beim Salto über eine Parkbank nicht auf den Füssen,
sondern auf seinem Kopf. Und anstatt, dass ich denke, wie schrecklich das ist,
denke ich: Muss man Saltos über Parkbänke machen? Muss man überhaupt Saltos
machen? Muss man Risiko-Sportarten betreiben, die ja den Namen Risiko nicht
umsonst tragen? Muss man mit Skate- und Snowboard die wildesten Tricks
versuchen?
Hackerby-Phänomen.
Da lese ich
von einer 25jährigen Angestellten, die ihren Freund verlassen hat und dieser
rächte sich, indem er Nacktfotos von ihr ins Internet stellte. Und merke, dass
auch hier mein Mitleid mit diesem Sexting-Opfer ausbleibt. Man weiss doch
heutzutage genau, wie heikel jedes Foto ist, warum lässt man solche Fotos
überhaupt zu? Ich weiss, ich klinge hartherzig, aber die Frau war ja kein Kind
mehr und sollte einen gewissen Verstand besitzen. Noch nie hat jemand mein
bestes Stück fotografiert, und es wird auch nie geschehen.
Auch hier
hat Hackerby wieder zugeschlagen.
Das
Hackerby-Phänomen setzt auch ein, wenn mir mein Nachbar erzählt, er habe die
Kündigung erhalten, weil er «ein paar Mal zu spät gekommen» sei. Auf meine
Nachfrage hin entpuppen sich die «paar Male» dann als doch etwas mehr, de facto
kam Michael an 45% der Arbeitstage pünktlich, an 30% eine halbe Stunde zu spät
und an 25% war er erst 60 oder mehr nach dem Arbeitsbeginn im Büro. Gründe hat
er genug: Da passte die Tramverbindung nicht, da hatte er das Handy zuhause
vergessen, da hat der Wecker nicht funktioniert, Michael wurde aufgehalten oder
musste einer alten Dame aus dem Bus helfen. Mein Gerede, er hätte sich ja einen
Fahrplan ausdrucken können, der funktioniert, zwei Wecker stellen (wie ich das
auch mache) und die Dinge des Tages schon am Abend parat legen, wischt mein
Nachbar weg: Ich hätte halt keine Ahnung, «wie das sei». Das auch ich
Berufstätiger und Berufspendler bin, lässt er ausser Acht. Klar, er hatte
Mitleid erwartet und das kommt einfach nicht. Meine Porpelsheim-Drüse will
einfach nicht produzieren.
Nun habe ich
neulich gelesen, dass die Böller AG, ein kleines deutsches Pharmaunternehmen,
2019 ein Präparat namens Pietosan® auf den Markt bringt, das das fehlende
Pietomin fast vollständig substituiert. Ich werde sicher einer der ersten
Käufer sein.
Vielleicht
kann ich dann wieder Mitleid haben
mit der
Milliardärsgattin, der die Perlenkette geklaut wurde
mit dem Falschparkierer,
der eine Busse zahlen muss, obwohl er «nur geschwind…»
mit dem
Steuerhinterzieher, der erwischt wurde
mit Detlev,
der sich bei seinem 765. Sexpartner beim Barebacking den Tripper geholt hat
Vielleicht
kommt das Mitleid ja wieder. Ich hoffe auf Pietosan®.