Montag, 11. November 2013

Mein Erzengel oder: Gleichbleibende Qualität

Die Erzengel haben ja gar nichts mit Erz zu tun. Der Name entstand durch eine Umbildung, die der Fachmann als Volksetymologie bezeichnet: Erzengel sind eigentlich Archengel, also Altengel, modern formuliert Senior Angels. Wenn sie nicht gerade Drachen verkünden, diese seien schwanger oder Jungfrauen die Köpfe abschlagen (oder war es umgekehrt?), wenn sie nicht gerade am Paradies die Einlasskarten kontrollieren, wenn sie nicht gerade in deutschen Dramen Unsinn verzapfen - ich bitte Sie, lesen Sie einmal den Prolog zu Faust I, ich habe über 17.000 Sonnenuntergänge erlebt und es hat nie gedonnert - wenn sie also dies alles gerade nicht tun, dann passen sie auf die kleinen Engel auf. Und kleine Engel machen ja so viel Unsinn! Schauen Sie sich mal ein barockes Fresko an: Die Hälfte von den kleinen geflügelten Knaben hat doch eindeutig ADHS. Die Erzengel oder Archangeli ermahnen nun, strafen, loben, kontrollieren und machen vor.
Es ist nun nur allzu logisch, dass mein Hauptlektor den Namen eines Erzengels trägt. Er findet jeden Fehler, jedes fehlende oder falsche Komma, jede falsche Grossschreibung, er schlägt Flüsse und Städte nach, und wenn ich eine Insel wie Pgischi-Poschgi erfinde, dann darf ich im nächsten Post nicht etwa Pogschi schreiben, mein Erzengel merkt das sofort.
Immer wieder kommt der Hinweis, der letzte Post sei nicht so gut gewesen, und ich solle doch auf gleichbleibende Qualität achten.
Gleichbleibende Qualität.
Das ist bei einer kreativen - oder darf ich sogar künstlerischen Arbeit sagen? - gar nicht so einfach. Ich kenne keinen einzigen Musiker, Maler, Schriftsteller, Architekten, Regisseur, keine einzige Komponistin, Zeichnerin, Autorin, Baumeisterin, Theaterfrau, bei dem oder der alle Arbeiten gleich gut sind. Selbst Bach und Mozart, selbst Renoir und Picasso, selbst Schiller und Mann, alle haben auch Mist abgeliefert. Nehmen wir doch gerade Schiller, sein Fiesco war so schlecht, dass bei der ersten Lesung vor den Schauspielern schon diese davonliefen, der Fiesco ist also ein Fiasko.
Wie schafft man gleichbleibende Qualität?
Eigentlich nur, indem man Prozesse standardisiert, Abläufe regelt, klare Anweisungen aufschreibt, im Grunde genommen industriell produziert. So werden eben Lindt-Pralinen immer gleich süss und Kambly-Kekse immer gleich mürbe. So ist eben jede Rolex technisch einwandfrei und jeder Mercedes gleich schnell.
Das geht aber bei Glossen nicht.
Das geht vielleicht bei Lyrik, da kommt dann so etwas heraus:

Angst
Vor...
Angst
Vor...
Angst
Vor...     

(Bitte entsprechende Wörter wie Welt, Gesellschaft, mir, dir, allen einsetzen und das Ganze drei Strophen lang)

Habe ich wirklich einmal in einem Programmheft gelesen. Und als ich mich wunderte, warum ein Dramaturg so etwas ins Programmheft nimmt, stellte ich fest, dass er der Dichter war.
Aber vielleicht liegt hier die Lösung: Immer gleich gut geht nicht, aber immer gleich schlecht geht immer. Das heisst, wo auch immer wir gleichbleibende Qualität fordern, wird das Niveau sinken, weil sich niemand mehr traut, einmal über sich hinauszuwachsen, nach den Sternen zu greifen, einen Geniestreich zu liefern, den Himmel offen zu sehen.
Sagen wir also nie einem Kind: "Das erwarte ich jetzt aber immer von dir! Hinter diese Stufe fällst du mir nicht zurück! Jetzt aber immer so gut wie heute!" Ein Kind, das immer 4,5 bringt, macht weniger Sorgen, es hat aber den gleichen Schnitt wie eines, das ständig zwischen Note 3 und 6 hin und her pendelt.
Und selbst die kleinen Engel spielen ihre Harfen nicht immer gleich gut, manchmal spielen sie auch einfach falsch. Wenn sie aufgeregt sind, weil bald Weihnachten ist, oder traurig, weil die Karwoche naht.
Nur die Erzengel, die sind perfekt. Aber dafür sind sie ja auch Erzengel.




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