Montag, 24. September 2012

Jammerer



Die ältere Dame schaut sich suchend im völlig überfüllten Schnellzug nach Zürich um. Ich weise auf den einzigen freien Platz direkt vor mir. „Ich fahre nicht gerne rückwärts“, meint sie und lässt sich seufzend in den Sessel fallen. Ich biete ihr einen Tausch an, für mich sei es kein Problem, von welcher Seite ich meinen Laptop bediene, meine ich und will schon aufstehen. Sie lehnt ab: „Nein, nein keine Umstände, es wird schon gehen.“  Genervt fängt sie an ihr Kreuzworträtsel zu lösen, während sie immer wieder ihren stumpfen Bleistift betrachtet. Ein Kugelschreiberangebot schlägt sie ebenso wie den Platztausch aus. Nach einer Weile klagt sie über die Hitze. Vielleicht wäre ihr wohler, wenn sie eine der drei Wolljacken ausziehen würde? Ich begreife nun: Die Dame ist eine Jammerin.
In Zürich wird ihre Schwester sie am Perron abholen, und sie wird sofort eine Tirade beginnen, rückwärts hätte sie fahren müssen, unbeschäftigt, weil ihr Rätselstift nicht tat und unerträglich heiss sei es gewesen. Den netten jungen Mann (ok, mittelalterlichen Mann) mit seinen Angeboten wird sie ebenso verschweigen wie den Jackenüberschuss.
Es gibt Menschen, die die Devise „Lerne leiden ohne zu klagen“ in „Lerne klagen ohne zu leiden“ umgewandelt haben.  Für diese Leute geht im April die grausame Winterkälte direkt in eine nicht auszuhaltende Hitze über, bis 3 To-do-Punkte ist ihnen furchtbar langweilig, ab 4 stehen sie vor dem Burnout.
Ein Buch ist entweder in zu simpler Sprache geschrieben, oder sie verstehen es nicht, eine Fernsehsendung zu bieder oder zu schrill.
Im Restaurant werden sie zu Kellnerquälern: Ein Salzkorn mehr und die Suppe ist versalzen, die vorher zu fade war. Entweder schreien sie „Das kann doch keiner essen!“ oder sie flüstern: „Kleine Portionen“.
Machen Sie nie den Fehler, den ich machte, und versuchen Sie nie einem Jammerer zu helfen. Si e unterstützen ihn oder sie, indem Sie für Klagstoff sorgen: Vordrängeln in der Bäckerei, im Bus auf Füsse stehen, im Zug Fenster aufreissen oder Heizung hochdrehen.
Die Schwester stand tatsächlich auf dem Bahnsteig, und bevor meine Dame Luft holen konnte, maulte die Zürcher Seite: „Chaasch dr nit vorställe, was hüt scho widr schief gloffe isch…“ Die Baslerin fiel ein und die beiden verliessen laut meckernd das Gleis Richtung Bahnhofscafé um dort über den schlechten Kaffee und den trockenen Kuchen zu schimpfen.  

P.S. Der Post wurde schon VOR der Ukraine-Reise verfasst! (passt aber gut)

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