Montag, 21. November 2011

nichts gemacht

Als ich in mein Klassenzimmer gehe, sehe ich einen Jungen auf der Bank vor dem Singsaal sitzen. Er hat seine Beine angezogen und gegen sein blaues Sweatshirt gedrückt. Trotzig-jugendlich blickt er aus dem Fenster. "Hast gestört, was?", pflaume ich ihn an. "Ich habe gar nichts gemacht." Unwillkürlich muss ich lachen. Als er mich erstaunt ansieht, erkläre ich ihm, dass ich deshalb lache, weil ich seit Wochen schon x Kinder auf der Bank gesehen habe, und alle hatten "nichts gemacht". Er grinst, gibt mir also ein kleines Stück Recht.
Aber ist er nicht ein wirkliches Kind unserer Zeit? Sind die Bänke unserer Welt nicht voll von Managern, Politikern, CEOs, Ministern, Chefärzten, die alle "nichts gemacht" haben und dennoch fies vor die Türe gesetzt wurden? Trotzig und wütend blicken sie aus dem Fenster, sie verstehen die Welt nicht mehr ob einer so harten Strafe, sie haben nichts oder fast nichts getan, sie haben nur ein bisschen, ein kleines bisschen bei der Dissertation geschummelt, sie haben nur ein bisschen, wirklich ein bisschen der Mitarbeiterin in die Hose gegriffen, sie haben doch nur ganz wenig Bestechungsgeld angenommen, ein wirklich kleiner Betrag. Und der Zeitgeist gibt ihnen noch Recht, es tut ihrer Beliebtheit keinen Abbruch, Dreck am Stecken zu haben, die Menschen sind auf ihrer Seite, es waren ja wirklich nur Kleinigkeiten. Überall Schweinerei, überall Mist, und niemand trägt die Schuld, manchmal kann man auch gleich den Maschinen die Schuld geben, die ja bockig, eigensinnig und gemein unseren Alltag sabotieren, all die Computer, Motoren, Kopierer, die uns einfach aus Bosheit "Technisches Versagen" und "Störungen im Betriebsablauf" bescheren, dabei sind es doch Menschen, die diese Geräte bedienen und eben richtig oder falsch bedienen. Und es sind auch Menschen, die die Maschinen warten - oder eben nicht warten, und wenn Handling und Wartung stimmen, ist es ein Fertigungsfehler, auch von Wesen aus Fleisch und Blut zu verantworten. Überall Schweinerei, niemand hat "etwas gemacht".
Der Bub sitzt noch da, als ich in die Zigipause gehe, immer noch in gleicher Haltung und mit dem gleichen Gesichtsausdruck, plötzlich kommt mir der alte Witz in den Sinn, bei dem der Angestellt sagt: "Ich habe doch nichts gemacht." und der Chef: "Eben". Vielleicht hockt der auch vor der Tür, weil er eben nichts gemacht hat, nicht mitgeschrieben, das Material nicht geholt, nicht mitgesungen. Manchmal ist es eben auch verkehrt, nichts zu machen, angesichts von so vielen Problemen und Baustellen auf dieser Welt. Manchmal müsste man etwas TUN.
Als ich aus der Zigipause komme, hat sich ein zweiter Bub dazugesellt. Seine Kapuze tief über die blonde Wuschelmähne gezogen, wartet er neben dem ersten. "Gestört?" "Ja", sagt er ganz ehrlich, "ich habe einen Schwamm geworfen." Allerdings muss er dann doch noch ergänzen: "Aber nur einen ganz kleinen, und nicht auf den Lehrer, und völlig nass war er auch nicht, und dann muss ich gleich raus."
Auch er ein Kind unserer Zeit.

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