Dienstag, 22. Januar 2019

Lyrik im Dialog (4): Nur ein Hauch????????


Johann Wolfgang von Goethe (1749 -1832)


Bilde, Künstler! Rede nicht!
Nur ein Hauch sei dein Gedicht.


Herr Geheimrat!
Hochwohlgeborener Geheimrat!
Das ist stark!
Das ist grossartig!

Sie schaffen es in Ihrer Impertinenz doch stets noch, mich zu verblüffen. Ich sitze hier an meinem Schreibtisch und lasse den Blick über mein Bücherregal schweifen und er bleibt bei der 12bändigen Goetheausgabe hängen, die ja nur eine Auswahl-Ausgabe ist und längst nicht vollständig, und ich denke mir dabei, Sie haben da doch schon einiges gesagt, geredet, geschrieben, Sie haben sich nicht gerade kurz gefasst, Sie haben ja auch den ganzen Tag geschwafelt und extra einen armen Menschen dafür bezahlt, dass er ihr Geschwafel aufschreibt.

Nehmen wir nur einmal den Werther, die Leiden des jungen Werther, oder in der originalen Fassung mit dem damals üblichen doppelten Genitiv versehen, also die Leiden des jungen Werthers, ich habe dieses Buch so oft lesen müssen, in der Mittelstufe und in der Oberstufe und in der Einführung in die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, und nochmal im Hauptseminar Briefroman, sodass dieses Buch für mich – ich habe es von Anfang an gehasst – längst zu einem Herter, die Leiden des jungen Herter, oder in der originalen Fassung mit dem damals üblichen doppelten Genitiv versehen, also die Leiden des jungen Herters geworden ist, viele Seiten wird da geredet und geredet und geredet, obwohl von Anfang klar ist, dass der Junge sehenden Auges in sein Unglück rennt…

Oder nehmen wir die Wahlverwandtschaften oder den Wilhelm Meister oder Dichtung und Wahrheit,
die ja nicht umsonst die Spasstitel Qualverwandtschaften oder Wilhelm Kleister tragen, alles zu lange, zu viel, zu üppig, zu fettreich und cholerestiriös, zu sahnig und pappig, das verträgt kein Mensch ohne Digestiv, ohne Schnaps, aber Sie haben sich ja auch immer verschätzt, wie man im Brentano-Haus erfahren kann, haben Sie sich immer den Teller vollgehäuft und dann die Hälfte nicht gegessen…

Ach so…

Ich habe das nicht ganz richtig verstanden? Es geht nur um Lyrik?
Herr Geheimrat! Hochwohlgeborener Geheimrat! Das ist genauso stark! Das ist genauso grossartig!

Viele Gedichte von Ihnen sind – das muss selbst der Kleistianer und Lenzianer zugeben, und als Kleistianer und Lenzianer kann man eben kein Goethe-Freund sein – grossartig. Im Gegensatz zu Ihren Dramen und Ihren Romanen. Viele Gedichte sind gewaltig, aber ein «Hauch»? Wenn man sich den Begriff «hauchzarte Lyrik» im Mund und im Kopf zergehen lässt, dann kommt man auf viele, aber sicher nicht auf Sie. Wie poetisch könnte man z. B. eine Schiffreise, einen Morgen am Hafen beschreiben, den Beginn eines Tages auf den Wellen, wie zart und wie ein Hauch, der ja am Meer wirklich weht, und mit welcher Wucht und Macht bei Ihnen:

Die Nebel zerreißen,
Der Himmel ist helle,
Und Äolus löset
Das ängstliche Band.

Da wird also gleich zerrissen, gerupft, geschnitten und es muss auch gleich ein Gott her, der hier mit starker Hand das Band aufbändelt, das ist gewaltig, aber ein «Hauch»? Wollen Sie noch ein Beispiel?

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei!

Das ist gut, das hätte ich nicht besser gekonnt, aber es ist ein Paukenschlag, eine Böe, ein Windstoss Stärke 9, das ist ein Hurrikan oder ein Orkan, das ist ein Knall, ein Peng oder eine Fanfare, ein Hauch ist es nicht.
Seien Sie mir also nicht, böse, aber Sie wissen ja:
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Das ist – glaube ich – mal ausnahmsweise kein Zitat von Ihnen, aber es stimmt trotzdem. 





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