Johann
Wolfgang von Goethe (1749 -1832)
Bilde, Künstler! Rede nicht!
Nur ein Hauch sei dein Gedicht.
Herr
Geheimrat!
Hochwohlgeborener
Geheimrat!
Das ist
stark!
Das ist
grossartig!
Sie schaffen
es in Ihrer Impertinenz doch stets noch, mich zu verblüffen. Ich sitze hier an
meinem Schreibtisch und lasse den Blick über mein Bücherregal schweifen und er
bleibt bei der 12bändigen Goetheausgabe hängen, die ja nur eine Auswahl-Ausgabe
ist und längst nicht vollständig, und ich denke mir dabei, Sie haben da doch
schon einiges gesagt, geredet, geschrieben, Sie haben sich nicht gerade kurz
gefasst, Sie haben ja auch den ganzen Tag geschwafelt und extra einen armen
Menschen dafür bezahlt, dass er ihr Geschwafel aufschreibt.
Nehmen wir
nur einmal den Werther, die Leiden des jungen Werther, oder in der
originalen Fassung mit dem damals üblichen doppelten Genitiv versehen, also die
Leiden des jungen Werthers, ich habe
dieses Buch so oft lesen müssen, in der Mittelstufe und in der Oberstufe und in
der Einführung in die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, und nochmal im
Hauptseminar Briefroman, sodass dieses Buch für mich – ich habe es von Anfang
an gehasst – längst zu einem Herter,
die Leiden des jungen Herter, oder in
der originalen Fassung mit dem damals üblichen doppelten Genitiv versehen, also
die Leiden des jungen Herters
geworden ist, viele Seiten wird da geredet und geredet und geredet, obwohl von
Anfang klar ist, dass der Junge sehenden Auges in sein Unglück rennt…
Oder nehmen
wir die Wahlverwandtschaften oder den
Wilhelm Meister oder Dichtung und Wahrheit,
die ja nicht
umsonst die Spasstitel Qualverwandtschaften
oder Wilhelm Kleister tragen, alles
zu lange, zu viel, zu üppig, zu fettreich und cholerestiriös, zu sahnig und
pappig, das verträgt kein Mensch ohne Digestiv, ohne Schnaps, aber Sie haben
sich ja auch immer verschätzt, wie man im Brentano-Haus erfahren kann, haben
Sie sich immer den Teller vollgehäuft und dann die Hälfte nicht gegessen…
Ach so…
Ich habe das
nicht ganz richtig verstanden? Es geht nur um Lyrik?
Herr
Geheimrat! Hochwohlgeborener Geheimrat! Das ist genauso stark! Das ist genauso
grossartig!
Viele
Gedichte von Ihnen sind – das muss selbst der Kleistianer und Lenzianer
zugeben, und als Kleistianer und Lenzianer kann man eben kein Goethe-Freund
sein – grossartig. Im Gegensatz zu Ihren Dramen und Ihren Romanen. Viele
Gedichte sind gewaltig, aber ein «Hauch»? Wenn man sich den Begriff «hauchzarte
Lyrik» im Mund und im Kopf zergehen lässt, dann kommt man auf viele, aber
sicher nicht auf Sie. Wie poetisch könnte man z. B. eine Schiffreise, einen
Morgen am Hafen beschreiben, den Beginn eines Tages auf den Wellen, wie zart
und wie ein Hauch, der ja am Meer wirklich weht, und mit welcher Wucht und
Macht bei Ihnen:
Die Nebel zerreißen,
Der Himmel ist helle,
Und Äolus löset
Das ängstliche Band.
Da wird also
gleich zerrissen, gerupft, geschnitten und es muss auch gleich ein Gott her,
der hier mit starker Hand das Band aufbändelt, das ist gewaltig, aber ein
«Hauch»? Wollen Sie noch ein Beispiel?
Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei!
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei!
Das ist gut,
das hätte ich nicht besser gekonnt, aber es ist ein Paukenschlag, eine Böe, ein
Windstoss Stärke 9, das ist ein Hurrikan oder ein Orkan, das ist ein Knall, ein
Peng oder eine Fanfare, ein Hauch ist es nicht.
Seien Sie
mir also nicht, böse, aber Sie wissen ja:
Wer im
Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Das ist –
glaube ich – mal ausnahmsweise kein Zitat von Ihnen, aber es stimmt
trotzdem.
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