«Rechtschreibung wird überbewertet.»
Als Jochen seinen Kumpels Michek und Sefan nach dem zweistündigen Hockeytraining vorschlägt, in den neuen Jason Bourne-Film zu gehen – er liest offensichtlich meine Posts nicht – und Michek eifrig bejaht, aber klar sagt, man müsse vorher noch duschen, spricht Jochen die eindeutigen Worte:
«Duschen wird überbewertet.»
Als die Kritikerrunde, die sich für SWR2 nach der Premiere von «La
Citronella» bei den Lutzhausener Festspielen zusammensetzt, auf die Problematik
kommt, dass die Hauptrollensopranistin bei zwei Arien doch weit die vom
Komponisten Mario Dubacci vorgeschriebenen Töne umging, also einfach falsch
sang, räuspert sich der Feuilletonchef einer grossen Tageszeitung und grummelt:
«Intonation wird ja auch überbewertet.»
Als man den Ortsvorsitzenden der AfD darauf hinweist, dass er
vielleicht doch nicht so gut macht, wenn er konsequent «Schwuchteln», «Neger», «Araber»
und «Weiber» sagt, runzelt er die Stirn, überlegt kurz, was er sagen soll und grunzt
dann:
«Politische Korrektheit wird in diesem Land seit Jahren überbewertet.»
Überbewertet.
Was für ein bescheuertes Wort.Eine Sache als überbewertet zu bezeichnen nimmt dem Gegenüber auf eine so fiese Weise den Wind aus den Segeln, dass man kotzen könnte. Es heisst ja dann eigentlich: Die Sache ist ja gar nicht so wichtig, das checken aber alle die Dummbacken nicht, aber ich, ich habe endlich den echten Wert der Sache herausgefunden, und der Wert der Sache ist praktisch gleich null.
Überbewertet.
Dabei ist es eigentlich völlig egal, ob überbewertet oder richtigbewertet oder unterbewertet wird. Wenn man von der Bedeutung einer Sache in der Öffentlichkeit abhängig ist, muss man sich dieser beugen.
Werden die Kinder der 5c, wenn sie einen Anruf vom erhofften
Lehrmeister bekommen, der ihnen mitteilt, dass er keinen Lehrling nimmt, der in
seinem Bewerbungsschreiben «Leerstelle» «miht freundlichen Grüsen» und «Abschluhss»
schreibt, diesem Meister entgegenhalten, dass Ortographie überbewertet sei?
Wenn ja, wird er leise kichern und meinen, dass er ja die Bewertung vornimmt
und für IHN die Einhaltung gewisser Normen einfach wichtig sei.
Werden Jochen, Michek und Sefan dem Herrn in der Reihe vor ihnen,
der sich lautstark beschwert, dass sie sich woanders hinsetzen sollen, weil er
den Film nicht geniessen kann, wenn es hinter ihm wie in einem Kamelstall
stinkt, auch vorhalten, dass er Duschen überbewertet? Sie haben schlechte
Karten, weil notfalls fliegen sie aus dem Lichtspieltheater, weil nämlich der
Betreiber SEINE Einstufung von olfaktorischer Zumutbarkeit vornimmt.Wird die Sopranistin bei zukünftigen Vorsingen den Satz des Feuilletonisten vor sich hertragen und jedem Studienleiter klarmachen, dass Intonation nicht so wichtig sei?
Wird der AfDler seinen Spruch auch nach einem Wahldesaster wiederholen,
weil selbst für Schlimmwähler es ein Zu-schlimm gibt? (Ist wahrscheinlich Unsinn, weil die AfD gerade wegen solcher unmöglicher Sätze gewählt wird...)
Überbewertet.
Interessant ist ja auch, dass der Spruch immer von denen kommt, die die
Sache nicht machen, nicht haben, nicht dabei sind.Stellen Sie vor, dass der Filmschauspieler X, der gerade erfährt, dass er zum dritten Male zum «Sexiest Man Alive» gewählt wurde, vor die Mikros tritt und kichert:
«Schönheit wird ja allgemein überbewertet»
Das hätte was, ja das wäre eine Aussage.
Stellen Sie sich vor, dass Michael, der stets 30 Minuten vorher am Treffpunkt steht und noch nie in seinem Leben zu spät gekommen ist, irgendwann meint:
«Pünktlichkeit wird überbewertet.»
Das hätte Charme, das wäre unanfechtbar.
Leider ist es nicht so, ständig sagen die Illiteraten, Lesen sei
überbewertet, die Schmutzfinken, Sauberkeit sei überbewertet, die Raser,
Verkehrssicherheit sei überbewertet. Es ist zum Heulen.
Angeblich soll letzte Woche auf der Claramatte ein Mann erwürgt worden
sein. Und auch angeblich soll noch folgender Dialog stattgefunden haben: «Ich…
be…komm…kei…ne…Luft…mehr…»
«Atmen wird überbewertet.»
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