Freitag, 27. Januar 2023

Liebe Lese...

Liebe Lese…

Ach, ich weiss jetzt gar nicht mehr, wie ich Sie anreden soll. Da gab es ja die Zeiten, als man mit der männlichen Form auch die Frauen meinte, dann bin ich – ohne grosse Probleme – auf «Leserinnen und Leser» übergegangen, oder auch manchmal «Leser*innen», oder manchmal – als Scherz, den mir hoffentlich niemand übelnahm – «Lesergendergapinnen». Nun haben wir aber ein Problem mit binären Menschen. Bei «Liebe Leserinnen und Leser» fühlen sie sich nicht angesprochen. Wohl natürlich bei «Leser*innen», muss man aber jetzt «Liebe Leser, liebe Leserinnen und Leser*innen» sagen oder fühlen sich bei «Leser*innen» alle dabei?

Das Problem ist nicht nur, dass ich das alles nicht weiss, sondern dass ich auch keinen Menschen fragen kann. Schon der vorige Absatz wird mir wahrscheinlich als zynisch, gemein, als unsensibel und konservativ ausgelegt, also anders gesagt als «unwoke». (Habe ich nicht erfunden, da gibt es schon Belege im Netz…) Dabei bin ich nicht zynisch, gemein, unsensibel und erzkonservativ also anders gesagt total «unwoke», ich will das wirklich wissen.

Liebe Lese…

Ich glaube, wir brauchen eine ganz neue Form, etwas Innovatives und Witziges, etwas Formenrevolutionierendes. Und bei diesem Innovativem und Witzigem, bei diesem Formenrevolutionierendem dürfen Sie mitreden.
Wir werden das jetzt ganz demokratisch entscheiden. Welche der folgenden vier Anreden möchten Sie in Zukunft lesen?

a) Liebe Leser(*)(innen)

Ein wenig schwer zu entziffern, aber so was von korrekt und woke, dass einem sich das Hauptharr kräuselt. Nach dem Bausatzprinzip setzen Sie sich das zusammen, was Ihnen passt. Nicht zum Lesen geeignet, aber das wäre ja wurscht, denn – oder irre ich mich? – Sie lesen die Glosse ja für sich und nicht laut vor. Obwohl das eigentlich schön wäre. So nach dem Motto «wenn du lieb und artig bist, lese ich dir heute Abend noch die aktuelle Dienstag-Freitag-Glosse vor». Oder als Strafe? «wenn du jetzt nicht brav bist, lese ich…» Aber wir schweifen ab.

b) Ihr, die ihr diese Zeilen lest

Schön, nicht? Sehr poetisch. Sehr altmodisch. Und sehr stimmig, denn wer hier angesprochen wird, liest ja gerade, sonst würde er die Zeilen ja nicht lesen, hier beisst sich die Katze (oder die Maus oder die Schlange) in den Schwanz. Man würde hier natürlich das Sie-Prinzip aufgeben, aber das wäre es, glaube ich, wert. Es erinnert ein wenig an «Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren», jener Befehl, der bei Dante Alighieri über dem Eingang zur Hölle steht, aber das lassen wir ganz schnell weg, wir denken vielleicht lieber an «Ihr wandelt droben im Licht» bei Hölderlin, das ist schöner. Auf jeden Fall wäre das ein stilvoller Beginn.

c) Ja, hallo erstmal

Das pure Gegenteil. Mit diesem Spruch beginnt der Kabarettist Rüdiger Hoffmann seine Programme. Und warum nicht eine Glosse mit einer kabarettistischen Begrüssung beginnen? Und das Wort «Hallo» ist gar nicht so ohne. Lesen Sie mal bei Wikipedia nach, das könnte nämlich – wenn ich das richtig in Erinnerung habe – aus dem Altaramäischen, dem Ungarischen, dem Sanskrit, dem Frühspanischen oder der Inuitsprache kommen, und je nach Herkunft aus dem Altaramäischen, dem Ungarischen, dem Sanskrit, dem Frühspanischen oder der Inuitsprache hätte das einen ganz anderen Touch. Allerdings: Auch hier ginge das «Sie» verloren.

d) Liebe alle

Eigentlich ein Unding, aber ein Unding, das sich immer mehr durchsetzt. Wir kennen das aus dem Mail-Verkehr, so werden ja viele Mails begonnen. Ob sich dabei wirklich «alle» angesprochen fühlen, oder eben genau niemand («Ich muss es ja nicht machen, es sind ja alle gemeint…), das wird heftig diskutiert. Aber für die Wokeness: «Alle» ist im Deutschen neutral, zum Glück schreibe ich nicht Französisch, da wäre «tout» und «toutes» schon wieder problematisch.

Ach, ich weiss gar nicht mehr, wie ich Sie anreden soll.
Ich glaube, wir brauchen eine ganz neue Form, etwas Innovatives und Witziges, etwas Formenrevolutionierendes. Und dabei dürfen Sie mitreden. Wir werden das jetzt ganz demokratisch entscheiden. Welche der vier Anreden möchten Sie in Zukunft lesen?























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