Freitag, 9. Juli 2021

Seifenblasen

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen.
Ich will meine Reaktionen – innerliche und äusserliche – nun in mehreren Phasen darstellen.

Phase 1:
Ich ärgere mich. Ich ärgere mich, denn da sitzt man an einem ruhigen Dienstagabend auf dem Balkon, man isst einen Insalata Caprese, trinkt ein Glas Weisswein, hat den Frieden, und dann kommen diese Ungetüme von unten hochgeschossen. Totale Störung. Ich gucke runter, und da hockt Magda, eine erwachsene Frau, mit vier ebenfalls erwachsenen Bekannten und bläst Seifenblasen. Mein erster Impuls: Runterbrüllen, runterbrüllen, so etwas wie «Aufhören!», «Stopp!» oder «Schluss jetzt!». Mein zweiter Impuls: Ich hole die Polizei. Aber was geht hier eigentlich vor? Ruhestörung? Die Seifenblasen sind relativ leise. Nein, sie sind sogar absolut stumm. Sachbeschädigung? Die Dinger machen nichts kaputt und machen auch keinen Dreck. Wenn sie fertig sind, dann zerplatzen sie einfach wie…, ja wie… Seifenblasen. Daher sagt man das auch so. Erregung öffentlichen Ärgernisses? Eher nein. Grober Unfug? Eher nein.

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen.

Phase 2:
Ich gucke mir die Dinger etwas genauer an. Wenn ich ehrlich bin, sind die Seifenblasen eigentlich ganz hübsch, sie schillern in allen Farben, sind mal gross, mal klein, sie steigen nach rechts und nach links, mal schneller und mal langsamer, je nach Wind und schimmern in Rot, Blau und Lila. Und: Sie erinnern mich an meine Kindheit. Meine Güte, was war das für eine Wonne, wenn der Götti oder die Gotte so eine Packung mitbrachte. Eine halbe Stunde Vergnügen und Fantasie. Insofern – mein Zorn auf meine Nachbarin schwindet.

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen.

Phase 3:
Ich hole meinen Fotoapparat und mache Bilder. Und zwar nicht diese normalen, in allen Regenbogenfarben schillernden, die man von Bildersammlungen kennt, sondern eher nüchterne, surrealistische, denn der Himmel ist fast schon dunkel, dämmernd, abendhaft. Und in diesem dunklen, dämmernden, abendhaften Himmel gelingen mir ein paar Aufnahmen, die fast an René Margritte erinnern. Ich experimentiere dann noch ein bisschen mit Ausschnitten herum, und am eindrücklichsten ist es, wenn eine blasse Kugel vor einem Wolkenhimmel schwebt, ohne Dächer und Bäume.

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen.

Phase 4:
Am Sonntagmorgen drucke ich das schönste Bild aus, es sieht wirklich aus wie eine Malerei des belgischen (jawoll, jawoll, belgischen, nicht französischen!) Surrealisten, und ich packe das Bild mit einem Zettel und etwas Schoggi in den Briefkasten meiner Nachbarin. (oder eigentlich – wie Sascha Lobo schreibt – meine Ubarin…). Auf dem Zettel steht: vielen dank für die aktion am dienstag.

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen. Und diese Seifenblasen haben nun zu einer netten, schönen und guten nachbarschaftlichen (ja, Sascha, ubarschaftlichen…) Aktion geführt.

Die Frage ist nun: Warum bleiben wir so häufig in Phase 1 stecken? Warum rufen wir sofort die Polizei, wenn wir erst einmal nachdenken könnten? Warum schauen wir nicht erst einmal hin?

Zu den grössten Ärgernissen zwischen Obarn und Ubarn (das sind nach Sascha Lobo eben die Leute, die oberhalb oder unterhalb einem wohnen) gehört das Giessen der Balkonpflanzen. Umgekehrt zu den Seifenblasen kommt hier die Sache, die Ärger hervorrufen könnte, von oben. Ständig gibt es hier Zoff, weil das überlaufende Wasser nach unten tropft und rieselt. Aber mal ganz im Ernst: Was ist so schrecklich an den paar Tropfen, die von oben kommen? Die Momente, an denen meine ehemalige Obarin ihre Pflanzen goss und die Tropfen wie magisch in meine Wasserlilien perlten und die Tröpflein in der Morgensonne glitzerten gehören zu meinen schönsten Erinnerungen.

Das Gleiche mit Hunden. Manchmal möchte man um Hilfe schreien, wenn ein Setter oder Retriever auf einen zuläuft, aber wenn man die Phase 1 erst einmal vorbeigehen lässt und sich ein wenig mit dem Tier beschäftigt, dann kann es sein, dass man den Setter oder Retriever richtig ins Herz schliesst.

Warum stecken wir in Phase 1 oder Phase 2 oder Phase 3 fest und lassen uns nicht bis Phase 4 treiben?

Meine Nachbarin, oder eigentlich die Frau, die unter uns wohnt, liess letzte Woche zusammen mit einigen Freunden Seifenblasen steigen. Und ich bin froh, dass sie es gemacht hat.





 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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