Dienstag, 11. Dezember 2018

Unbekannte Organe (4): Die O'Neill-Drüse (die Kitsch-Drüse)


Kennen Sie die O’Neill-Drüse?
Nicht? Aber da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten Leute kennen diese Drüse nicht.
Die von dem amerikanischen Anatomen Frank O’Neill (*1853 in Pittsburgh, gest. 1928 in New York) im Jahre 1904 entdeckte Drüse ist ein im Nebengallenmark beheimatetes Organ, das das ebenfalls von O’Neill entdeckte Hormon Glitzerogen ausstösst. Das Glitzerogen wiederum ist dafür verantwortlich, dass bei uns gewisse Wahrnehmungen im ästhetisch-optischen und im ästhetisch-akustischen Bereich ausser Kraft gesetzt werden. Anders formuliert:
Das Glitzerogen ist das Kitsch-Hormon.
Und die O’Neill-Drüse ist die Kitsch-Drüse.  

Uns allen ist das Phänomen bekannt: Wir gehen durch ein Kaufhaus und sehen irgendeinen Gegenstand, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden stampft, sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie negiert und ihnen Hohn spricht, wir sehen eine Sache, die glitzert und glutzert, die farblich und formal eine Geschmacklosigkeit ist und…
und…
und…
kaufen sie.
Zuhause stellen wir erschrocken fest, so wie ein Mörder nach der Tat, dass wir ein Plastikhündchen mit silbernem Glitzerarmband oder einen rosa Papierblumenstrauss, dass wir 15 Rosina Wachmeister-Postkarten oder ein Junges-Paar-vor-Palmen-im Sonnenuntergang-Poster erworben haben.  

Uns allen ist das Phänomen bekannt: Wir zappen durch die TV-Kanäle und stossen auf irgendeinen Film, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden stampft, sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie negiert und ihnen Hohn spricht, wir stossen auf eine Schnulze, die von Klischee zu Klischee hüpft, untermalt von vibrierenden Geigen und…
und…
und…
schauen uns den ganzen Film an. 95 Minuten Ich brauche dich so sehr nach Rosamunde Pilcher.

In beiden Fällen hat die O’Neill-Drüse ganze Arbeit geleistet, das Nebengallenmark hat Tonnen von Glitzerogen ausgeschüttet und unseren Körper mit dem Kitschhormon förmlich überschwemmt.

O’Neill fand aber ganz erstaunliche Tatsachen über die Drüse heraus, in seinen 1906 veröffentlichten Studies about the function of Glitzerogen, wies er zwei wichtige Fakten nach, nämlich dass erstens das Kitschhormon in Beziehung zu Liebes-, Gefühls- und Geschlechtshormonen steht und dass zweitens die O’Neill-Drüse bei mangelndem UV-Licht besonders viel produziert. Anders formuliert:
Wenn wir verliebt sind und im Dezember wird unser Körper von Glitzerogen überflutet.

Sind Sie gerade verliebt? Nun, dann sind Sie machtlos ihrem Nebengallenmark ausgeliefert, Sie kaufen rosa Röschen mit roten Herzchen dran, Sie freuen sich über Kärtchen mit himmelblauen Wölkchen drauf, Sie backen Kuchen mit violettem Zuckerguss und schreiben I LOVE YOU drauf, Sie haben alle ihre Bauhaus- und Corbusier-, Ihre Schlichtheits- und Formfollowsfunction-Grundsätze über Bord geworfen und suhlen sich im Kitsch.

Genauso mit Weihnachten.
Eigentlich müsste ein denkender und normal fühlender Mensch bei einem auch nur halbstündigen Gang durch die Innenstadt von einem Schreikrampf in den anderen fallen, da hat ein Basler Kaufhaus sein Gebäude innen und aussen mit ca. 5000 silbrig glitzernden Diskokugeln verziert, da tanzen in weisse Gewänder gehüllte Engelein durch die Strassen, da hängen überall blinkende Tannenbäumchen und Sternchen, da ist jede Ecke und jeder Winkel dermassen verkitscht, dass einem übel werden sollte.
Aber die O’Neill-Drüse pumpt und pumpt und pumpt und pumpt…
Und wir finden die Diskokugeln herzig und lächeln die Engelein an und reissen die Tannenbäumchen NICHT von den Wänden und zerstören die Sternlein NICHT, sondern stimmen auch noch Stille Nacht und Süsser die Glocken an und freuen uns, wenn aus einem Lautsprecher auf dem Weihnachtsmarkt Last Christmas oder Winter Wonderland dudelt.

Es gibt gegen das Glitzerogen kein wirkliches Gegenmittel, natürlich könnte man mit Testosteron- oder Östrogenblockierern arbeiten, um sich gar nicht mehr zu verlieben, aber wer will das schon? Im Dezember würde die Bestrahlung mit künstlichem UV-Licht nützen, wer also Zeit für eine halbe Stunde Solarium pro Tag hat, kann sich ein wenig schützen.

Aber Pillen gegen den Kitschschub gibt es nicht. 



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