Kennen Sie
die O’Neill-Drüse?
Nicht? Aber
da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten
Leute kennen diese Drüse nicht.
Die von dem
amerikanischen Anatomen Frank O’Neill (*1853 in Pittsburgh, gest. 1928 in New
York) im Jahre 1904 entdeckte Drüse ist ein im Nebengallenmark beheimatetes
Organ, das das ebenfalls von O’Neill entdeckte Hormon Glitzerogen ausstösst. Das
Glitzerogen wiederum ist dafür verantwortlich, dass bei uns gewisse
Wahrnehmungen im ästhetisch-optischen und im ästhetisch-akustischen Bereich
ausser Kraft gesetzt werden. Anders formuliert:
Das
Glitzerogen ist das Kitsch-Hormon.
Und die
O’Neill-Drüse ist die Kitsch-Drüse.
Uns allen
ist das Phänomen bekannt: Wir gehen durch ein Kaufhaus und sehen irgendeinen
Gegenstand, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden stampft,
sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie negiert
und ihnen Hohn spricht, wir sehen eine Sache, die glitzert und glutzert, die
farblich und formal eine Geschmacklosigkeit ist und…
und…
und…
kaufen sie.
Zuhause
stellen wir erschrocken fest, so wie ein Mörder nach der Tat, dass wir ein
Plastikhündchen mit silbernem Glitzerarmband oder einen rosa
Papierblumenstrauss, dass wir 15 Rosina Wachmeister-Postkarten oder ein
Junges-Paar-vor-Palmen-im Sonnenuntergang-Poster erworben haben.
Uns allen
ist das Phänomen bekannt: Wir zappen durch die TV-Kanäle und stossen auf
irgendeinen Film, der alle unsere ästhetischen Grundsätze in Grund und Boden
stampft, sie mit Fäusten schlägt, der unsere Schönheitsmaximen beleidigt, sie
negiert und ihnen Hohn spricht, wir stossen auf eine Schnulze, die von Klischee
zu Klischee hüpft, untermalt von vibrierenden Geigen und…
und…
und…
schauen uns
den ganzen Film an. 95 Minuten Ich
brauche dich so sehr nach Rosamunde Pilcher.
In beiden
Fällen hat die O’Neill-Drüse ganze Arbeit geleistet, das Nebengallenmark hat
Tonnen von Glitzerogen ausgeschüttet und unseren Körper mit dem Kitschhormon
förmlich überschwemmt.
O’Neill fand
aber ganz erstaunliche Tatsachen über die Drüse heraus, in seinen 1906
veröffentlichten Studies about the function of Glitzerogen, wies er zwei
wichtige Fakten nach, nämlich dass erstens das Kitschhormon in Beziehung zu
Liebes-, Gefühls- und Geschlechtshormonen steht und dass zweitens die
O’Neill-Drüse bei mangelndem UV-Licht besonders viel produziert. Anders
formuliert:
Wenn wir
verliebt sind und im Dezember wird unser Körper von Glitzerogen überflutet.
Sind Sie
gerade verliebt? Nun, dann sind Sie machtlos ihrem Nebengallenmark
ausgeliefert, Sie kaufen rosa Röschen mit roten Herzchen dran, Sie freuen sich
über Kärtchen mit himmelblauen Wölkchen drauf, Sie backen Kuchen mit violettem
Zuckerguss und schreiben I LOVE YOU drauf, Sie haben alle ihre Bauhaus- und
Corbusier-, Ihre Schlichtheits- und Formfollowsfunction-Grundsätze über Bord
geworfen und suhlen sich im Kitsch.
Genauso mit
Weihnachten.
Eigentlich
müsste ein denkender und normal fühlender Mensch bei einem auch nur
halbstündigen Gang durch die Innenstadt von einem Schreikrampf in den anderen
fallen, da hat ein Basler Kaufhaus sein Gebäude innen und aussen mit ca. 5000
silbrig glitzernden Diskokugeln verziert, da tanzen in weisse Gewänder gehüllte
Engelein durch die Strassen, da hängen überall blinkende Tannenbäumchen und
Sternchen, da ist jede Ecke und jeder Winkel dermassen verkitscht, dass einem
übel werden sollte.
Aber die
O’Neill-Drüse pumpt und pumpt und pumpt und pumpt…
Und wir
finden die Diskokugeln herzig und lächeln die Engelein an und reissen die
Tannenbäumchen NICHT von den Wänden und zerstören die Sternlein NICHT, sondern
stimmen auch noch Stille Nacht und Süsser die Glocken an und freuen uns,
wenn aus einem Lautsprecher auf dem Weihnachtsmarkt Last Christmas oder Winter
Wonderland dudelt.
Es gibt
gegen das Glitzerogen kein wirkliches Gegenmittel, natürlich könnte man mit
Testosteron- oder Östrogenblockierern arbeiten, um sich gar nicht mehr zu
verlieben, aber wer will das schon? Im Dezember würde die Bestrahlung mit künstlichem
UV-Licht nützen, wer also Zeit für eine halbe Stunde Solarium pro Tag hat, kann
sich ein wenig schützen.
Aber Pillen
gegen den Kitschschub gibt es nicht.
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