Freitag, 7. Dezember 2018

Unbekannte Organe (3): Der Van Guitenbrug-Lappen / Manche können auch die Ohren schliessen.


Kennen Sie den Van Guitenbrug-Lappen?
Nicht? Aber da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten Leute kennen diesen Lappen nicht.
Die meisten Menschen haben ihn auch nicht, denn der Van Guitenbrug-Lappen, den man schlicht und einfach als Ohr-Lid bezeichnen könnte, ist eine Anomalie, die nur bei einer von 5000 Personen vorkommt. Wenn Sie also den Van Guitenbrug-Lappen weder kennen noch haben, sind Sie völlig normal.

Das Ohr-Lid, medizinische Bezeichnung Dermis Aurialis Guitenbrigiensis, wurde erst 1949 vom Pathologen Dr. Jan-Willem Van Guitenbrug (* 1924 in Den Haag, gest. 2014 in Amsterdam) entdeckt, und dies ist eine erstaunliche Tatsache. Normalerweise gilt ja der alte Spruch:
Der Internist weiss alles und kann nix.
Der Chirurg kann alles und weiss nix.
Der Psychiater weiss nix und kann nix.
Der Pathologe weiss alles und kann alles, aber es nutzt nix.
Im Falle der Dermis Aurialis Guitenbrigiensis war es aber die Pathologie, die Erstaunliches ans Tageslicht brachte. Der blutjunge Pathologe hatte am Ziekenhuis in Tubbeln (Provinz Overijssel) einen Fall zu untersuchen, der Rätsel aufgab: Der 17jährige Piet De Loo war von einem Karton erschlagen worden, die mit schweren Gegenständen gefüllte Pappe hatte auf einem Fenstersims gestanden und war heruntergestürzt. Absolut unbegreiflich war, da mehrere Passanten den Teenager mit Zurufen gewarnt hatten, er hätte nur auf das Gebrüll reagieren, einen Schritt zur Seite oder nach vorne machen müssen, und wäre am Leben geblieben. Waarom had de Loo niks gehoord? So lautete die Frage. (Das Niederländische unterscheidet zwei Formen von nichts, niets, was so viel nichts bedeutet und niks, was so viel wie überhaupt und total nichts heisst, und genau diese Form ist hier angebracht.)

Heutzutage wäre die Lösung klar: Der durch die Kopfhörer in den Ohren abgelassene Sound von Rap oder Rock übertönte die Rufe, das gab es aber 1949 noch nicht. War De Loo taub gewesen? Seine Eltern bestritten das. Hatte er am Tag des Unfalls einen Hörschaden erlitten, trotz erheblicher Ramponierung des Schädels konnte Van Guitenbrug nachweisen, dass der Hörnerv völlig intakt war; und dann entdeckte er das nach ihm benannte Lid. De Loo besass in beiden Ohren einen starken Hautlappen, mit dem er seine Ohren hermetisch verriegeln konnte, er konnte also nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren zumachen. Im Januar 1950 stellte der junge Pathologe seine Ergebnisse im International Journal of Medicine vor und wurde zunächst verspottet, die Kollegen von der HNO fanden das Lid nicht, erst im Sommer 1950 meldeten sich einzelne Ärzte aus Deutschland, Schweden und Spanien, die die Dermis Aurialis Guitenbrigiensis bei Patienten gefunden hatten, bald war klar, dass nur jeder 5000. Mensch den Van Guitenbrug-Lappen besitzt, wobei die Verteilung bei 68% Männer und 33% Frauen liegt.

Obwohl der Guitenbrug-Lappen so selten ist, bin ich schon ein paar Male Fällen begegnet, bei denen das rare Organ sicher im Spiel gewesen ist:
Da sitze ich bei einem Banker der Commerzbank und möchte von ihm einen Kredit für eine Geschäftsidee und biete ihm als Sicherheit das Haus, das meinem Vater gehört und ich bewohne, und er bietet mir einen erweiterten Dispo mit astronomischem Zins an und dann gehe ich zur Sparkasse und bekomme dort einen Kredit mit Grundschuldeintrag und dann gehe ich wieder zur Commerzbank und kündige dort alle Konten, und als der Banker entsetzt fragt, ob den die SpaKa mir ohne Sicherheit so viel Geld gebe, und ich weise noch einmal auf die Sicherheit hin… und er wird bleich, er verliert einen Kunden, weil er einfach nicht zugehört hat. (Geschichte ist wahr)
Sicher hat jener Banker einen Van Gruitenbrug-Lappen, den er nicht rechtzeitig auf die Seite schob.

Eine Dermis Aurialis Guitenbrigiensis besitzt sicher auch jener junge Mann, der in Mainz-Kastell den IC nach Norden bestieg, weil er ihn für die S-Bahn hielt – auch eine wahre Geschichte. Der ICE, in dem ich sass, konnte wegen Hochwassers in Mainz nicht halten, also fuhren wir rechtsrheinisch und hielten in Kastell. Da dort sonst nur S-Bahnen halten, wurde durch Lautsprecher permanent angesagt: «ACHTUNG! Der folgende Zug ist ein Schnellzug, der AUSSERPLANMÄSSIG HÄLT. Es ist nicht die S-Bahn nach Wiesbaden. BITTE NICHT EINSTEIGEN!» Aber der junge Mann hatte nichts gehört und durfte mit uns fluchend nach Koblenz reisen.

Ein Fall von Van Guitenbrug liegt wahrscheinlich auch bei meiner Schülerin vor, der ich geduldig und lange Sachen erklären kann, die aber mangels Zuhörens untergehen:
«He come to school and…”
“He comes, he, she, it das S muss mit!”
“He comes to school and learn…”
“Learns! Was habe ich eben gesagt?»
«Ich habe nicht zugehört.»

Im Gegensatz zum La Gouche-Muskel ist der Van Guitenbrug-Lappen nicht vegetativ gesteuert, das Abschotten von der Umwelt geschieht also wissentlich und willentlich, es passiert mit voller Absicht. Das kann gut sein, wenn der Nachbar zu laute Musik hört oder ein Mensch totalen Quatsch an uns ranlabert. Manchmal wäre es aber gut, die Ohren offen zu haben.

Und im Fall von Piet De Loo sogar lebensrettend.






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