Kennen Sie
den Van Guitenbrug-Lappen?
Nicht? Aber
da sind Sie in guter Gesellschaft.
Die meisten
Leute kennen diesen Lappen nicht.
Die meisten
Menschen haben ihn auch nicht, denn der Van Guitenbrug-Lappen, den man schlicht
und einfach als Ohr-Lid bezeichnen könnte, ist eine Anomalie, die nur bei einer
von 5000 Personen vorkommt. Wenn Sie also den Van Guitenbrug-Lappen weder
kennen noch haben, sind Sie völlig normal.
Das Ohr-Lid,
medizinische Bezeichnung Dermis Aurialis Guitenbrigiensis, wurde erst 1949 vom
Pathologen Dr. Jan-Willem Van Guitenbrug (* 1924 in Den Haag, gest. 2014 in
Amsterdam) entdeckt, und dies ist eine erstaunliche Tatsache. Normalerweise
gilt ja der alte Spruch:
Der Internist weiss alles und kann nix.
Der Chirurg kann alles und weiss nix.
Der Psychiater weiss nix und kann nix.
Der Pathologe weiss alles und kann alles,
aber es nutzt nix.
Im Falle der
Dermis Aurialis Guitenbrigiensis war es aber die Pathologie, die Erstaunliches
ans Tageslicht brachte. Der blutjunge Pathologe hatte am Ziekenhuis in Tubbeln
(Provinz Overijssel) einen Fall zu untersuchen, der Rätsel aufgab: Der
17jährige Piet De Loo war von einem Karton erschlagen worden, die mit schweren
Gegenständen gefüllte Pappe hatte auf einem Fenstersims gestanden und war
heruntergestürzt. Absolut unbegreiflich war, da mehrere Passanten den Teenager
mit Zurufen gewarnt hatten, er hätte nur auf das Gebrüll reagieren, einen
Schritt zur Seite oder nach vorne machen müssen, und wäre am Leben geblieben.
Waarom had de Loo niks gehoord? So lautete die Frage. (Das Niederländische
unterscheidet zwei Formen von nichts,
niets, was so viel nichts bedeutet
und niks, was so viel wie überhaupt und total nichts heisst, und
genau diese Form ist hier angebracht.)
Heutzutage
wäre die Lösung klar: Der durch die Kopfhörer in den Ohren abgelassene Sound
von Rap oder Rock übertönte die Rufe, das gab es aber 1949 noch nicht. War De
Loo taub gewesen? Seine Eltern bestritten das. Hatte er am Tag des Unfalls
einen Hörschaden erlitten, trotz erheblicher Ramponierung des Schädels konnte
Van Guitenbrug nachweisen, dass der Hörnerv völlig intakt war; und dann
entdeckte er das nach ihm benannte Lid. De Loo besass in beiden Ohren einen
starken Hautlappen, mit dem er seine Ohren hermetisch verriegeln konnte, er
konnte also nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren zumachen. Im Januar
1950 stellte der junge Pathologe seine Ergebnisse im International Journal of Medicine vor und wurde zunächst
verspottet, die Kollegen von der HNO fanden das Lid nicht, erst im Sommer 1950
meldeten sich einzelne Ärzte aus Deutschland, Schweden und Spanien, die die
Dermis Aurialis Guitenbrigiensis bei Patienten gefunden hatten, bald war klar,
dass nur jeder 5000. Mensch den Van Guitenbrug-Lappen besitzt, wobei die
Verteilung bei 68% Männer und 33% Frauen liegt.
Obwohl der
Guitenbrug-Lappen so selten ist, bin ich schon ein paar Male Fällen begegnet,
bei denen das rare Organ sicher im Spiel gewesen ist:
Da sitze ich
bei einem Banker der Commerzbank und möchte von ihm einen Kredit für eine
Geschäftsidee und biete ihm als Sicherheit das Haus, das meinem Vater gehört
und ich bewohne, und er bietet mir einen erweiterten Dispo mit astronomischem
Zins an und dann gehe ich zur Sparkasse und bekomme dort einen Kredit mit
Grundschuldeintrag und dann gehe ich wieder zur Commerzbank und kündige dort
alle Konten, und als der Banker entsetzt fragt, ob den die SpaKa mir ohne
Sicherheit so viel Geld gebe, und ich weise noch einmal auf die Sicherheit hin…
und er wird bleich, er verliert einen Kunden, weil er einfach nicht zugehört
hat. (Geschichte ist wahr)
Sicher hat
jener Banker einen Van Gruitenbrug-Lappen, den er nicht rechtzeitig auf die
Seite schob.
Eine Dermis
Aurialis Guitenbrigiensis besitzt sicher auch jener junge Mann, der in
Mainz-Kastell den IC nach Norden bestieg, weil er ihn für die S-Bahn hielt –
auch eine wahre Geschichte. Der ICE, in dem ich sass, konnte wegen Hochwassers
in Mainz nicht halten, also fuhren wir rechtsrheinisch und hielten in Kastell.
Da dort sonst nur S-Bahnen halten, wurde durch Lautsprecher permanent angesagt:
«ACHTUNG! Der folgende Zug ist ein Schnellzug, der AUSSERPLANMÄSSIG HÄLT. Es
ist nicht die S-Bahn nach Wiesbaden. BITTE NICHT EINSTEIGEN!» Aber der junge
Mann hatte nichts gehört und durfte mit uns fluchend nach Koblenz reisen.
Ein Fall von
Van Guitenbrug liegt wahrscheinlich auch bei meiner Schülerin vor, der ich
geduldig und lange Sachen erklären kann, die aber mangels Zuhörens untergehen:
«He come to school and…”
“He comes, he, she, it das S muss
mit!”
“He comes to school and learn…”
“Learns! Was
habe ich eben gesagt?»
«Ich habe
nicht zugehört.»
Im Gegensatz
zum La Gouche-Muskel ist der Van Guitenbrug-Lappen nicht vegetativ gesteuert,
das Abschotten von der Umwelt geschieht also wissentlich und willentlich, es
passiert mit voller Absicht. Das kann gut sein, wenn der Nachbar zu laute Musik
hört oder ein Mensch totalen Quatsch an uns ranlabert. Manchmal wäre es aber
gut, die Ohren offen zu haben.
Und im Fall
von Piet De Loo sogar lebensrettend.
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