Dienstag, 4. Juni 2013

Alles? Alle?

Wir suchten neulich für eine Lesung des Romulus einen Odoaker. Also nicht auf der Bühne, sondern wir wollten das Dürrenmattsche Stück einfach bei Wein und Chips mit verteilten Rollen lesen. Da fand ich in einer öffentlichen Toilette den Hinweis blonder Muskelmann macht alles mit 076 5542314. Ich rief sofort an und brauchte eine Weile, dem jungen Kerl zu erklären, dass wir keine Orgie mit Literatur als Fetisch vorhatten, sondern Literatur pur, einfach Text lesen. "Ist ja widerlich", sagte er und legte auf. Dabei hatte er doch geschrieben, er mache ALLES mit.
Im März 1975 war es ungewöhnlich warm, worauf ich eines schönen Nachmittags verkündete, ich würde am nächsten Tag mit kurzen Hosen in die Schule gehen. Den Hinweis meiner Mutter, dass es zwar mittags warm sei, aber am Morgen noch kalt, konterte ich mit der Bemerkung, dass alle aus meiner Klasse am nächsten Tag mit Shorts erscheinen würden und ich mich unendlich blamieren würde. Meine Mutter - eine kluge Frau - rief die Mütter meiner Schulwegskollegen an, und wies mich dann darauf hin, dass Michael, Thomas und Albrecht auch mit langen Jeans in die Schule müssten, wir also schon vier seien.
Alle.
Alles.
Gefährliche, dumme Worte.
Alle waren eigentlich gegen Hitler. Alle waren eigentlich gegen den Krieg. Und alle wussten nicht, was mit den Juden passierte.
Alle Jugos sind irgendwie aggressiv und alle Inder total friedlich. Alle Chinesen sind fleissig und alle Deutschen vorlaut.
Es genügt aber jeweils ein einziges Gegenbeispiel, um das Wort alle zu negieren. Wenn nur einer anders ist, wenn nur eine anders ist, kann man das Wort nicht mehr verwenden. Ich glaube nicht, dass es bei einer Milliarde Inder nicht eine Pottsau gibt, die jeden Tag blaue Augen verteilt und mit Freude Leute zusammenschlägt. Ich glaube nicht, dass es bei so viel Chinesen nicht auch faule Socken gibt, die den ganzen Tag vor dem Fernseher hocken, Soaps glotzen und Glückskekse fressen.
Wir sollten vorsichtig mit alle und alles umgehen.
Als wir übrigens am 4.3.1975 auf den Schulhof kamen, sass dort Gero - in Bermudas. Gero hatte sich durchgesetzt, er blieb aber an diesem Morgen der einzige Bub in der Klasse, der Knie zeigte.
Und Piet, der blonde Muskelmann, der dann doch kam, entpuppte sich als verdammt guter Odoaker, und weil er auch staturmässig so passt, wird es doch eine szenische Produktion geben.

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