Dienstag, 3. September 2024

Wie man Massentourismus vermeidet

 
Ich bin froh, dass ich schon mehrfach im Louvre war. Beim letzten Male vor ca. 10 Jahren mussten wir schon etwa zwei Stunden anstehen und teilten den Blick auf die Mona Lisa mit 30 Leuten, gemessen an den 20 Stunden anstehen heute und den 300 Handys, die einem Asiaten vor den Kopf halten, war das noch relativ OK.

Ich bin froh, dass ich schon einmal auf den Ramblas gelaufen bin. Auch damals, es ist circa 15 Jahre her, war es nicht wirklich leer, es schlenderten da schon ein paar hundert Leute, allerdings auch viele Einheimische. Heute kann man in Barcelona kaum einen Schritt machen, ohne dass man auf einen anderen Menschen tritt. Die Prachtstrasse ist so voll, wie der Frankfurter Hauptbahnhof morgens um 7.00 – und wer ist schon gerne Frankfurt HBF um sieben Uhr?

Auf der Zugspitze (es war 1971) war ich nicht glücklich. Ich wollte ein Eis, und das gab es damals dort oben nicht. Die blöden Bemerkungen von allen Leuten, ich sei doch umringt von Eis, gingen mir schrecklich auf die Nerven, vor allem, weil doch jedem klar sein müsste, dass ein Kind nicht «gefrorenes Wasser», sondern ein Langnese-Super-Eis-Am-Stiel will. Heutzutage gibt es 40 Kioske mit allen Arten von Eis – von Langnese bis Mövenpick, vom veganen Bio-Eis bis zum Chemieprodukt. Aber vor jedem Kiosk ist eine Schlange von 340 Leuten…

Und Venedig?
Ich traf neulich eine Taube, die jetzt auf dem Dach einer Industrieruine in Castrop-Rauxel wohnt. Sie gehörte zu den Stars unter den Markusplatz-Tauben, ja, sie hatte es sogar einmal auf das Cover des Times Magazin geschafft, aber sie hatte die vielen Leuten auf der Piazza San Marco nicht mehr ausgehalten.

Massentourismus, wohin man schaut.
Und es sind längst nicht nur Paris, Barcelona, Venedig und die Alpen, die hier Probleme haben, nein, es kann jeden beliebigen Ort treffen. Es genügt, dass irgendein Inder, Chinese oder Japaner ein Foto hochlädt, von der Kläranlage von Remseck, vom Rathaus von Esbjerg. Und wenn der Inder, Chinese oder Japaner 1000000 Follower hat. (in Worten: eine Million), dann sehen eben so viele Leute die Kläranlage von Remseck oder das Rathaus von Esbjerg und wollen dahin. Und jede und jeder hat natürlich wieder seine eigenen Follower…

Die kleine Gemeinde Bottingen (AG) hat nun eine ganz eigene Strategie gefunden, nachdem man Dinge wie Eintritt überlegt hatte – aber der Eintritt bringt ja auch in Venezia nix.
Bottingen besitzt nämlich einen kleinen, überaus schönen und pittoresken und malerisch gelegenen Wasserfall. Und damit dieser kleine, überaus schöne und pittoreske und malerisch gelegene Wasserfall, der bislang ein Geheimtipp ist, das auch bleibt, haben die Bottinger eine schöne Idee gehabt: Der Wasserfall wird zur Digital-Detox-Zone.
Um den kleinen, überaus schönen und pittoresken und malerisch gelegenen Wasserfall wird ein Zaun mit einem enormen und gewaltigen Störsender gebaut. Der Störsender verhindert nicht nur jede Internetverbindung – das sowieso – sondern legt auch alle elektronischen Geräte lahm.
Mit diesem Trick schlagen die Bottinger zwei Fliegen mit einer Klappe, sie fangen (wie die Italiener sagen) zwei Tauben mit einer Bohne oder töten (so sprechen ganz hässlich die Briten) zwei Vögel mit einem Stein.

Und die beiden Fliegen (deutsch), Tauben (italienisch), Vögel (englisch) sind:
Man kann am kleinen, überaus pittoresken und malerischen Wasserfall ein paar Stunden un-elektronisches Glück geniessen, nichts piept, nichts brummt, nichts rattert, Digital Detox vom Feinsten. Hier geniesst man Ruhe. Ruhe vor Facebook. Ruhe vor Instagram. Ruhe vor X. Ruhe vor WhatsApp.

Die zweite Fliege, die zweite Taube, der zweite Vogel ist:
Da man keine Fotos, kein Video machen kann, kann man auch niemand auf diesen Ort aufmerksam machen. Man kann keine 10000000 Leute an diesen Ort locken.
Gut.
Man könnte zeichnen; aber wenn man eine Zeichnung veröffentlicht, dann würde jedermann behaupten, man habe die Bottinger Kaskade einfach erfunden.

Man könnte auch schreiben. Aber wer liest heutzutage noch Texte? OK. Sie tun das gerade. Aber auch wenn sich die Anzahl meiner Leserinnen und Leser sich immer mehr steigert, sie liegt immer noch im vernachlässigbaren Bereich – in Internet-Dimensionen. Ich kann also von allen möglichen Orten schreiben, ich werde nicht schuld sein, wenn in X die Parkplätze ausgehen und in Y die Hotelbetten.
Nein. Trotz Zeichnen und Schreiben ist die Bottinger Methode genial.

Ich bin froh, dass ich im Louvre schon vor dem Leonardo gestanden bin.
Ich bin froh, dass ich an einem lauen Sommerabend über die Ramblas geschlendert bin.
Ich bin froh, dass ich auf der Zugspitze von Eis umgeben war – auch wenn es nicht das Eis war, dass ich mir vorgestellt hatte.
Ich bin froh, dass ich auf dem Markusplatz schon Tauben gefüttert habe.
Jetzt mache ich um alle diese Orte einen Bogen

Ich bin froh, dass ich meine geheimen, privaten, Traumplätze habe. Und die kommen nicht ins Internet. Sonst wären sie ja nicht mehr privat und geheim. Und keine Traumplätze mehr.





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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