Dienstag, 31. Oktober 2023

Herbstreisen (3) - Kann man Berlin kennen?

Nach der Heimkehr vom Schwarzwald folgte nur ein kurzes Umpacken, dann ging es nach Berlin. Über Berlin zu schreiben, das ist so, wie einen Song vom Meer zu dichten oder einen Baum zu malen, das ist so, wie wenn man ein Foto vom Eiffelturm schiesst oder jemandem die Fussballregeln erklärt. Dichten Sie einen Song vom Meer, dann hält man Ihnen von Brel bis Freddy Quinn alles vor, und man erklärt Ihnen, dass ein Song über einen Schrottplatz origineller wäre, malen Sie einen Baum, haut man Ihnen Kunst von Rembrandt bis Monet um die Ohren und meint, ein Loch im Boden wäre richtig witzig, ein Foto vom Eiffelturm wird mit einem Foto aus den Banlieues gekontert, und die Fussballregeln mit den Regeln des Kanupolos.
Nun inspiriert Sie aber halt ein Schrottplatz nicht so wie die stürmische, wellenüberspülte Bucht, ein Loch im Boden ist nicht so malerisch wie ein Linden- oder Eichenbaum, und Sie waren eben am Tour Eiffel und nicht in Villacoublay oder Aubervilliers, und genauso wenig interessieren Sie die Kanupoloregeln.
Und deshalb wieder einmal zwei Posts über Berlin, obwohl zurzeit alle deutschsprachigen Schriftsteller dort leben und über die Stadt schreiben, es gibt keinen Post über Wanne-Eickel oder Coburg, einfach, weil ich dort nicht war.

Aber mal ganz ehrlich:
Kennen und wissen Sie alles in bzw. über Berlin?
Waren Sie schon in der Schwimmhalle «Helmut Behrendt» am Helene-Weigel-Platz in Marzahn?
Kennen Sie das Wolfgang-Herrndorf-Denkmal?
Wissen Sie, wo das Paul-Lincke-Ufer anfängt?
An was erinnert Sie der U-Bahnhof Museumsinsel?
Von welchem Künstler ist die Plastik vor dem Springer-Komplex?

Wenn Sie alles wissen und kennen, dann müssen Sie nicht weiterlesen, wenn nicht, dann kann ich Ihnen vielleicht doch etwas erzählen, und bevor Sie jetzt anfangen zu googeln: Die drei letzten Antworten lauten: im Osten, an den Sternenhimmel von Schinkel (Bühnenbild zur «Zauberflöte») und Stephan Balkenhol.

Dabei ist es ja ganz unmöglich, Berlin zu kennen, alles zu wissen, in allen Gegenden gewesen zu sein. Wir haben in den letzten Jahren (ausgehend von Corona-Spaziergängen) Basel praktisch komplett erwandert, kennen nun fast jeden Platz und jede Strasse, fast alle Brunnen und alle Denkmäler. Das wäre aber nun, als ob jemand den Ortsteil Köpenick gut kennt, der ist mit 35 Quadratkilometern praktisch genauso gross. Aber Achtung: Ich rede hier vom ORTSTEIL Köpenick, das ist einer von 15 Ortsteilen des BEZIRKES Treptow-Köpenick, und dieser Bezirk ist dann fünfmal so gross wie Basel. Und dieser Bezirk ist dann auch nur einer von 12 Bezirken Berlins, und jetzt reden wir wieder nur von den Stadtgrenzen, da sind dann noch so schöne Gemeinden wie z. B. Bernau (ja, das ist wirklich witzig, es gibt dort auch ein Bernau, und es gibt dort eine Selbsthilfegruppe «Balance» für Psychiatrie-Erfahrene, schon lustige Zufälle manchmal…)
Aber zurück zum Thema: Die Stadt Berlin oder gar den Grossraum Berlin wirklich kennenzulernen ist gänzlich unmöglich.

Was man schaffen kann, sind Spezialorte – zum Beispiel Hallenbäder. Ja, und da kann ich sagen: In Berlin kenne ich sie alle. Einer meiner Lieblinge – und hier kommen wir zum heutigen Thema – ist die Schwimmhalle «Helmut Behrendt» am Helene-Weigel-Platz in Marzahn.
Wer den Namen Behrendt nicht mehr parat hat: Das war der wohl wichtigste Sportfunktionär der DDR. An seinem 1. Todestag bekam die Schwimmhalle den Namen (und eine Büste), kurz nach der Wende wurde beides entfernt, am 20. Todestag von Helmut kamen Namen und Büste wieder zurück – eine kluge Entscheidung. Und wer jetzt mault, nach solchen Leuten sollte man keine Sachen benennen, sollte sich überlegen, warum wir in praktisch jeder deutschen Stadt noch Strassen nach dem Idioten bezeichnen, der Hitler an die Macht brachte: Hindenburg.

Von Kreuzberg, genauer gesagt vom Paul-Lincke-Ufer zum Helene-Weigel-Platz kommt man schnell: Bus M29 bis Görlitzer Bahnhof (4 Stationen), U-Bahn bis Warschauer Strasse (2 Stationen) und S-Bahn bis Springpfuhl (5 Stationen), man käme auch bequem ohne Umsteigen mit dem Bus 194, das braucht dann allerdings eine Stunde. Die Busse (vor allem der M29er) sind manchmal nervig, sie kommen lange nicht, und dann kommen mehrere hintereinander. Der Rekord, den unser Gastgeber uns berichtete, waren fünf! Aber wer nun meckert, in Berlin ginge halt gar nix, wie es soll (Flughafen, Wahlen, ÖV, Wohnungsbau, usw.), der möge erst einmal still sein: Zigtausende von Leuten werden hier in dichtestem Takt durch die Stadt befördert, dass das nicht immer fahrplankonform geht, ist völlig klar. Andere europäische Grossstädte haben dieses Problem übrigens wunderbar gelöst: Es gibt dort einfach keine Fahrpläne.

Im Hallenbad teilt man sich am Morgen die Wasserfläche mit Schulklassen (so im Verhältnis 40% Schulen und 60% Öffentlichkeit). Und immer wieder bin ich über den Ton erstaunt, der in Garderoben und Duschen herrscht: «Jetzt sind alle mal still!», «Nicht rennen, langsam!», «Ahmed, zieh endlich dein T-Shirt aus!», «Mustafa, Seife benützen!». Das Wort «bitte» scheint unbekannt, das ist aber auch so eine Rasselbande, dass einem das «bitte» leicht vergeht. Und die Jungs scheinen das nicht übel zu nehmen. Und die Eltern? Wir eidgenössischen Lehrer hätten längst zig Anrufe. Ich spreche die Lehrerin in Marzahn darauf an. Und ihre Antwort ist berlinerisch lapidar: «Die Eltern von Mustafa und Ahmed können kein Deutsch.» Vielleicht sollte man als Lehrerin oder Lehrer sich doch überlegen, ob man aus einem Malte-Torben-Quartier in ein Ahmed-Quartier wechselt. Im Malte-Torben-Quartier wäre das Thema «Lehrer sagt nicht bitte» schon in 70 Einträgen im Eltern-Chat verhandelt worden.

So viel für heute.
Ach, Sie wissen die anderen beiden Namen auch nicht?
Helene Weigel war eine geniale Schauspielerin, Ehefrau Brechts und de facto Leiterin des Berliner Ensembles.
Paul Lincke war ein Operettenkomponist, von ihm ist zum Beispiel:

Das ist die Berliner Luft,
so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft,
wo nur selten was verpufft, pufft, pufft,
in dem Duft, Duft, Duft,
dieser Luft, Luft, Luft

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