Freitag, 18. November 2022

Wir wollen einmalig sein

Ich hatte neulich ein langes Telefonat mit der SERAFE. (Für meine deutschen Leserinnen und Leser: Die SERAFE ist in der Schweiz das, was in Deutschland die GEZ ist, für die anderen Länder weiss ich das nicht, aber es ist ein Club, der Gebühren für Rundfunk und Fernsehen eintreibt.)
Ich musste einer Mitarbeiterin den Sachverhalt erklären, dass mein Partner und ich ab 2018 zusammen an der gleichen Adresse, aber in zwei Wohnungen, nun aber in einem Haushalt wohnen. Was de facto bedeutet: Früher zweimal, jetzt einmal blechen.
Nach vielem Hin und Her verstand und – was die viel grössere Mühe war – glaubte sie den Sachverhalt, brachte aber mit einem tiefen Seufzer hervor: «Das ist jetzt wirklich so ein seltener Fall.»

Sie haben ein Jucken im linken Ohr.
Weil Sie keine Rötung und keinen Pickel entdecken, gehen Sie zum Arzt. Zunächst zum HNO, der schickt Sie aber zum Dermatologen. Der Dermamensch schaut sich das Ohr von allen Seiten an, er kratzt und schnüffelt dran, schliesslich noch mit Lupe und Leuchte. Und nach Kratzen und Schnüffeln, nach Lupe und Leuchte, spricht er die Worte: «Also, wissen Sie – das ist jetzt schon eine ganz spezielle Sache…»
Und weil es eine spezielle und keine gewöhnliche Sache ist, werden alle möglichen Therapien ausprobiert: Medikamente, Rotlicht, Kälte, Wärme. Aber trotz Medikamente, Rotlicht, Kälte und Wärme verschwindet das Jucken nicht…

Mein Freund Hans wohnt in Burchigen, einem Winzkaff im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet. Und dieses Winzkaff hat eine Besonderheit: Es hat eine Schweizer Adresse und eine deutsche Vorwahl. Wenn Hans nun im Internet seine Daten angeben soll, dann steht er vor einem Riesenproblem, er besitzt kein Handy, und wenn er die Adresse CH-8214 Burchigen eingibt, dann wird ihm für die Telefonnummer die Maske 41 ……………… geliefert. Er müsste nun aber die Maske 49……………… haben. Wenn er dem Anbieter schreibt, dann bekommt er die Antwort, für diesen seltenen Fall habe man keine Möglichkeit vorgesehen.

Zunächst einmal glaube ich nicht, dass hier wirklich so einmalige Sachen vorliegen.
Sind mein Partner und ich wirklich der einzige Fall, bei dem man zunächst in getrennten Wohnungen wohnt und dann doch zusammenzieht? Was wäre mit dem netten Mann gewesen, wenn er nach 24 Jahren doch endlich mit Alice etwas angefangen hätte? Hätten sie nicht dann auch (nach 24 years next door) eine gemeinsame Adresse gehabt?
Ist Ihre Ohrerkrankung wirklich die einzige ihrer Art – oder haben sie einfach einen Scheissdermatologen? (sit venia verbo)? Gäbe es vielleicht eine ganz einfache, ganz simple, ganz normale Erklärung, die man nur suchen müsste?
Ist die Lage von Burchigen wirklich so welteinzig? Gibt es nicht immer wieder solche Überschneidungen, für die man Lösungen finden muss? Was ist zum Beispiel mit dem Kleinen Walsertal?

Dann aber muss man sagen:
Geschieht allen Personen recht.
Wirklich.

Denn wir wollen ja alle möglichst einzigartig und besonders sein, und nun fällt diese Kiste auf uns zurück, sie fällt uns mit einem ganz grossen «Ätsch» auf den Kopf und grinst uns an.

Wir wollen alle einmalig und einzigartig sein.
Wir gehen in die Boutique und möchten natürlich ein Kleid, das etwas Besonderes ist, wenn die Verkäuferin dann sagt, dass dieses Modell gerne (und viel) gekauft werde, und zwar gerade in diesem Rotton, und dass die Frau XY und die Frau YZ und die Frau ZX es letzte Woche kauften, werden sie es dann nehmen? Wahrscheinlich nicht.
Wo fahren wir in Urlaub hin? Wohin reisen wir? Wahrscheinlich nicht nach Mallorca, um uns zwischen 10000000000 andere Menschen an einen Strand zu legen – falls wir dort überhaupt einen Platz zu finden. Wahrscheinlich auch nicht nach Gran Canaria, um dort unseren Friseur und unseren Metzger im Hotel zu treffen.
Was hängt an unseren Wänden? Sicher keine Reproduktion der «Sonnenblumen», des «Schrei» oder der Mona Lisa. Wenn wir es uns leisten können, dann legen wir uns sogar bei einem jungen Künstler ein Ölgemälde zu – zwar scheusslich, aber einmalig.

Wir alle wollen einmalig sein, wir wollen alle speziell sein, wir möchten die Einzige sein, die jenes Kleid trägt, wir reisen nach Kirgisistan oder nach Bitterfeld, nach Panama oder nach Buxtehude, wir kaufen jungen Künstlern Arbeiten ab, aber bei der SERAFE, beim Arzt, beim Angeben von Adresse und Telefon wollen wir bitte, bitte, bitte, bitte, dem Standard entsprechen.

Ganz konsequent ist das nicht.





 

 

 

 

 

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