Freitag, 26. April 2024

Südamerika (2): Die Exaktheit der Brasilianer

Die Brasilianer sind eines der exaktesten Völker der Erde.

Dieser Satz mag Sie jetzt zunächst einmal verwundern, aber nur, weil Sie wahrscheinlich einen anderen (einen falschen?) Begriff von «Exaktheit» haben.

Mit «Exaktheit» ist zum Beispiel nicht gemeint, dass ein Konzert, das auf 18.00 angekündigt wurde, auch wirklich um 18.00 stattfindet. Es kann um 18.30 oder auch um 19.00 starten, wobei «starten» nicht den ersten Ton bedeutet, sondern das erste Wort der Begrüssungsrede, die sehr ausgiebig alle Anwesenden und auch nicht Anwesenden erwähnt. Aber die verschobene Anfangszeit macht den Leuten eben gar nichts aus, es ist ja warm, man trifft Bekannte und kann ein wenig schwätzen, und solange man den typischen Becher mit Heisswasser und Mate-Blättern in der Hand hält, ist alles OK.

Mit «Exaktheit» ist auch nicht gemeint, dass eine Anmeldung in einem Hostel, in der bei drei Leuten vegane Kost, bei zwei Leuten glutenfreie Kost und bei einer Person verlangt wird, irgendeine Auswirkung auf das Frühstücksbuffet hat. Wozu hat man reichlich Früchte hingestellt? Und Papaya, Mango, Orange, Banane und Melone sind nur wahnsinnig lecker, nein, Papaya, Mango, Orange, Banane und Melone sind auch laktosefrei, glutenfrei und vegan. Ob Papaya, Mango, Orange, Banane und Melone allerdings genügend Kalorien beinhalten, steht auf einem anderen Blatt, aber gut, man muss halt genügend davon essen.

Worin äussert sich dann die Exaktheit der Brasilianer? In vielen kleinen Punkten:

In einem kleinen Café geht man an drei Tagen hintereinander einen Espresso trinken und ein Brownie essen. Die Brownies liegen auf einem Silbertablett und sind alle gleich gross geschnitten. Man könnte also das Süssteil – genauso wie den Kaffee – nach Stück berechnen. Dies wird aber als extrem unfair angesehen, denn die Teilchen differieren eben doch um ein bis drei Gramm. Daher wiegt die Verkäuferin jeden Brownie, bevor sie ihn verkauft. Und Sie zahlen am Montag 7 Reais 5 Centavos, am Dienstag 7 Reais 15 Centavos und am Mittwoch 7 Reais 25 Centavos. Völliger Quatsch, aber gerecht.
Und exakt.

Vielen Tourismusregionen geht viel Geld verloren, weil Postkarten falsch frankiert eingeworfen werden. Natürlich könnte man die betreffenden Schriftstücke mit dem Hinweis ZU WENIG PORTO! versehen, das Strafporto im Empfängerland eintreiben und dann in Sendeland zurückschicken, aber wer macht das schon? Brasilien hat hier einen Weg der Exaktheit, der solche Falschfrankatur einfach vermeidet:
Es gibt keine Postkarten zu kaufen, in praktisch keinem Laden.
Hat man in 3 Stunden Suche doch einen Laden gefunden, hat der keine Briefmarken. Denn es gibt gar keine.
Es gibt übrigens auch keine Briefkästen.
Gar keine.
Es gibt ganz, ganz, ganz, ganz wenige Postämter, «Correo» genannt, in denen ein mürrischer Beamter die Karten direkt abstempelt. Und einem klarmacht, dass man einen solchen Unsinn das nächste Mal gefälligst unterlassen soll. Man hat schliesslich ein Handy, man hat WhatsApp, oder Signal, oder Telegram, also soll man gefälligst elektronisch Fotos machen und die auch elektronisch verschicken.
Und nicht Correos mit solchem Unsinn wie Karten belästigen…

Schon bei der Einreise wird übrigens die Exaktheit vorgeführt. Der Pass eines jeden einzelnen Menschen wird begutachtet, beschnuppert, gedreht, gewendet, er wird angeschaut, gegen das Licht gehalten und abgeklopft. Nachdem man den Pass begutachtet, beschnuppert, gedreht, gewendet, angeschaut, gegen das Licht gehalten und abgeklopft hat, wird der Mensch befragt: Was ist der Zweck der Reise? Was ist das Ziel? Mag er Samba? Ist er katholisch? Hat er alle Fragen exakt beantwortet (die letzten beiden natürlich mit ja…), wird der Pass noch einmal begutachtet, beschnuppert, gedreht, gewendet, angeschaut, gegen das Licht gehalten und abgeklopft und erst dann gibt es den ersehnten Stempel.
Es müssten sich nun – so denken Sie – doch kilometerlange Schlangen bilden. Und da haben Sie recht: An brasilianischen Flughäfen bilden sich kilometerlange Schlangen. Das macht aber nichts, denn man hat Zeit, man kann ein wenig Rosenkranz beten – oder Samba tanzen.

Jede Person, die ein Schnellrestaurant (oder eine Raststätte) betritt, erhält ein Kärtchen (oder eine Art Badge). Alles, was im Schnellrestaurant (oder der Raststätte) konsumiert wird, wird auf dem Kärtchen (oder dem Badge) eingetragen. Bevor man das Etablissement nun verlässt, muss man abrechnen und beim Verlassen der Raststätte (oder des Schnellrestaurants) den Badge (oder das Kärtchen) wieder abgeben.
Eigentlich sehr praktisch. Nicht praktisch, wenn man nur aufs WC will. Oder nur kurz sehen, ob ein Bekannter im Gebäude ist. Oder irgendetwas anderes, was gratis ist – z. B. oft Kaffee aus einer Thermoskanne.
Also bilden sich auch hier lange Schlangen – aber noch einmal, man hat doch Zeit. Und beten oder Samba tanzen geht immer.

Die Brasilianer sind eines der exaktesten Völker der Welt. Das habe ich – glaube ich – nun deutlich genug gezeigt.

Ach, Sie wollen noch wissen, wie lange eine Postkarte braucht? Exakt gesagt: Am 9. April wurden meine Karten gestempelt.
Da sind sie noch nicht. Aber für die Strecke Basel – Leipzig braucht eine Weihnachtskarte auch vier Wochen.

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