Dienstag, 29. Oktober 2024

Herbstreise (3): Bis zur Stadtgrenze

Ich schaue mir gerne Strassenbahn-, Bus-, U-Bahn-, S-Bahn- und ähnliche Pläne an.
Das hat natürlich einerseits Gründe des Fort- und Weiterkommens. Mein Hotel liegt direkt am HBF, das Schwimmbad, das jeden Tag ab 6.30 auf mich wartet, liegt am Südbahnhof. Wie diese Distanz überwinden? Mit Regionalzug? Mit der S-Bahn? Mit der U-Bahn? Mit dem Tram? Sie werden nun lachen, nach ausgiebigem und ausführlichem und eingehendem Studium der Pläne kam ich darauf, dass die Strassenbahn die beste Variante ist: Die Regionalzüge fahren direkt, aber selten, die S-Bahn fährt oft, nimmt aber einen Riesenumweg über die Konstablerwache und die U-Bahn geht nur, wenn man an der Oper umsteigt. So ist die Linie 16 der Strassenbahn die beste Lösung.

Ich schaue mir aber auch manchmal einfach so die Pläne an. Das ist natürlich etwas nerdig und autistisch, etwas nutzlos und blöd, aber mal ganz ehrlich: Wenn ich nun 20 Minuten auf TikTok wäre, und wenn ich dort 100 kurze Videos angucken würde, dann wäre das genauso doof, würde aber keinen wundern.

Der Plan also. Ich studiere die Tram- und Buslinien, lerne die U-Bahnen auswendig, lese die S-Bahnen und suche nach Schiffen und Bergbahnen. (Randbemerkung: Hier bin ich also schon ein echter Schweizer, aber natürlich gibt es im Rhein-Main-Gebiet keine Bergbahnen und keine Schiffsrouten – warum eigentlich, Wasser wäre ja da und der Taunus auch, aber wir schweifen ab…) Und während ich nun also die Buslinien und die Trams studiere und die U-Bahnen auswendig lerne und die S-Bahnen lese, da fällt mein Blick auf zwei erstaunliche Endhaltestellen der Strassenbahnen:

Offenburg Stadtgrenze
Neu-Isenburg Stadtgrenze

Die Strassenbahn fährt also scheinbar genau bis zur Markierung zwischen den Gemeinden Frankfurt am Main einerseits und den Gemeinden Offenburg und Neu-Isenburg.
Was mag das für Gründe haben?

Vielleicht – so vermutet der Märchenmensch in mir – gibt es einen magischen Kreis, einen Kreis, der an der Stadtgrenze endet, und wenn man diese magische Grenze überschreitet, dann passiert Schreckliches, dann zittert der Himmel und bebt die Erde, dann holt einen der Teufel, weil man nur bis zur Grenze durfte, so wie der Teufel bei Ramuz ja dem Soldaten eingeschärft hat, die Landesgrenze nicht zu überschreiten:

Ja, so weit ging alles gut.
Aber nun seid auf der Hut!
Bis zur Grenze, dann gebt Acht!
Seid sonst neu in meiner Macht!
Geht nicht zu weit! Sonst, Freund, ich wett
Muss Madame erneut ins Bett.
Und was euch betrifft, Herr Prinzgemahl:
Auch die Geduld des Teufels reisst einmal!
Schlepp ihn stracks hinab zur Höll,
Brat am Spiess ihn auf der Stell.

Nun, aber so eine magische und mythische Erklärung ist doch – und hier muss ich dem Märchenmenschen in mir widersprechen – sehr unwahrscheinlich. Es würde kein Monster und kein Teufel auf mich lauern, wenn ich die Stadtgrenze überschritte.

Wenn man Frankfurter, echte Frankfurter, gestandene Einheimische und wirkliche Hiesige befragte, würden die Frankfurter, die echten Frankfurter, die gestandenen Einheimischen und die wirklichen hiesigen eine klare Antwort abgeben: Es ist erstaunlich, dass die Strassenbahn überhaupt so weit fährt. Was soll der Mensch in Neu-Isenburg? Was soll der Mensch in Offenbach? Echte Frankfurter, die gestandenen Einheimischen haben eine eindeutige Meinung: dreckig, hässlich, wüst, unnötig, kriminell, scheusslich, einfach die unschöne kleine Schwester, die Lea mit den «blöden Augen», die Widerspenstige, die nicht zu zähmen ist, ein Rattenloch, eine Schlangengrube.
Die gleiche Ansicht – mit etwas anderen Worten – würden auch Mannheimer über Ludwighafen abgeben.
Und viele andere Städte über die Orte, an denen man die notwendige Industrie angesiedelt hat, die man in der eigenen Gemeinde nicht haben wollte. Oder das Klärwerk. Oder das Gefängnis. Oder die Müllverbrennungsanlage.

Der Grund für das Das-Tram-fährt-bis-zur-Stadtgrenze ist aber viel einfacher:
Man konnte sich bisher nicht über die Kosten einigen. Auch dieses Spiel ist ein sehr altes, wir haben das in Basel auch schon x-mal erlebt und erleben es noch. Die eine Stadt ist das Zentrum, die Mitte, in der man einkauft, arbeitet, Kultur und Freizeit erlebt. Die anderen Gemeinden sind die Wohn- und Schlafgemeinden. Diese erwarten nun von der grossen, das sie gefälligst die Infrastruktur zahlt, denn sie habe ja auch die Einnahmen. Das Zentrum, die Mitte sieht das genau anders, die Leute würden ja billig im Umland wohnen, nun könnten diese Gemeinden ja auch das Tram zahlen…
Und so streitet man sich.
Und streitet.
Und streitet.
Bis man sich – meistens – auf 50% / 50% der Kosten einigt.
Aber so ist der Mensch.

Nein, ich habe es nicht zu beiden Grenz-Haltestellen geschafft. Obwohl ich das sehr gerne getan hätte: Nicht nur auf dem Plan die Tramlinien abfahren, sondern in Wirklichkeit.



 

 

 


 

 

 

Freitag, 25. Oktober 2024

Herbstreise (2): Es lebe die App!

Es ging auf die Schwäbische Alb.
Es ging nach Frankfurt.
Es ging zunächst Bad Waldsee – Aulendorf – Herbertingen – Albstadt – Balingen
Dann ging es Stuttgart – Heilbronn – Heidelberg – Frankfurt.
Und von Frankfurt aus in mannigfaltige Richtungen…
Hierbei – und nun muss man dem 21. Jahrhundert auch einmal ein Kränzlein winden – sind gewisse Apps von grösstem Nutzen.

Mein Vater plante alles mit dem Bundesbahn-Kursbuch. Das Kursbuch war eigentlich eine wunderbare Sache, wenn man über zwei bestimmte Voraussetzungen verfügte: Man musste Muskeln und Zeit haben.
Die Muskeln brauchte man, um den Wälzer aus dem Regal zu heben. Denn das Ding, das ja sämtliche Eisenbahnfahrpläne der Deutschen Bundesbahn enthielt (damals noch ohne die Strecken im Osten…), war schwer. Kennen Sie die Bildbände des Taschen-Verlages? Das Kursbuch übertraf jene an Gewicht. Kennen Sie die leder- und metalleingebundene Grosymus-Bibel aus der Bibliothek St. Anton? Das Kursbuch brachte mehr auf die Waage. Kennen Sie die neue Goethe-Gesamtausgabe? Das Kursbuch war sperriger.
Zeit brauchte man, um mit dem Ding umzugehen. Man musste erst in einer der 45 Streckenkarten die Linie 341, 342 oder 357 eruieren, um dann wild hin- und herblätternd die betreffenden Linien zu begutachten. Stets musste man dabei auf Buchstaben wie a), b), c) usw. oder A, B, C usw. achten. Niemand hat das schöner beschrieben als Eugen Roth:

Ein Mensch ist der Bewundrung voll:
Nein, so ein Kursbuch einfach toll!
Mit wieviel Hirn ist es gemacht:
An jeden Anschluss ist gedacht.
Es ist der reinste Zauberschlüssel
Ob München - Kassel, Bremen - Brüssel,
Ob Bahn, ob Omnibus, ob Schiff,
Man findet's leicht auf einen Griff!
Dabei sind auch noch Güterzüge
In das verwirrende Gefüge
Des Fahrplans fleissig eingeschoben!
Die Bahn kann man genug nicht loben.
Der Mensch in eitlem Selbstbespiegeln,
Rühmt sich, dies Buch mit sieben Siegeln
Zu lesen leicht, von vorn bis hinten,
Trotz seiner vielbesprochnen Finten.
Schon fährt der Mensch nach Osnabrück
Und möcht am Abend noch zurück:
Und sieht, gedachten Zug betreffend,
Erst jetzt ein kleines f, ihn äffend;
Und ganz versteckt steht irgendwo:
"f) Zug fährt täglich außer Mo."
Der Mensch, der so die Bahn gelobt,
Sitzt jetzt im Wartesaal und tobt.
Und was er übers Kursbuch sagt,
Wird hier zu schreiben nicht gewagt.

Ganz schwierig wurde es dann mit den Busverbindungen. Denn das BAHN-Kursbuch war ja ein BAHN-Produkt und enthielt BAHN-Züge und BAHN-Busse. Also nicht die Busse der Post und der ca. 20000 örtlichen, regionalen und privaten Busunternehmen. Wenn man nun von Tuttlingen (wo einen das Kursbuch hinführte) nach Trossingen mit einem Bus der Südbaden-Bus GmbH weiterfahren wollte, hatte man keine Chance. Ich selbst habe einmal im Bahnhof Tuttlingen angerufen und den Schalterbeamten darum gebeten, seinen Platz zu verlassen und auf Bussteig 1, der 15 Meter Luftlinie von ihm entfernt war, nachzusehen, ob am Samstag ein Bus in die Hohnerstadt führe. Was er natürlich brüsk ablehnte und ich doch mit meinem Mitsubishi fuhr…
Brauchte man nun eine Verbindung, die einen Hinweg ZUM Abfahrtsbahnhof und einen Weg VOM Zielbahnhof zum Zielort enthielt, war man aufgeschmissen.

Hier muss man nun die vielen Apps, die vielen Internetseiten, die vielen Möglichkeiten einfach loben. Eine Tour wie am Freitag, den 11. Oktober wäre früher praktisch nicht denkbar gewesen: Wir reisten über Friedberg nach Bruchenbrück-Görbelheimer Mühle, wo sich Edition & Galerie Hofmann befindet (übrigens ein herrliches Areal mit Ausstellungsräumen), dann ging es von Bruchenbrück-Görbelheimer Mühle über Friedberg nach Bad Nauheim in die Therme, die Sprudelhoftherme. Alles easy und bequem vom Handy aus geplant. Mit der DB-App.
Bitte nicht lachen!
Die App ist immer zuverlässig. Die Bahn ist es nicht.

Aber um es noch einmal ganz klar zu sagen, liebe Ü-60er und Ü70er und Ü80er:
FRÜHER war nicht alles besser.
Früher war NICHT alles besser.
Früher war nicht ALLES besser.
Und wenn Sie der Ich-hole-das-Kursbuch-Fitness und dem Wie-schön-ich habe-eine-Abendbeschäftigung nachtrauern:
Ihre Muskelübungen könnten sie auch mit Brennholz machen, wäre besser als Erdgas.

Und als Abendbeschäftigung könnten Sie ja auch mal ein Gesellschaftsspiel machen.

 

Dienstag, 22. Oktober 2024

Herbstreise (1): Auf der Alb

Wie nach jeder Reise von mir werde ich Ihnen ein bisschen berichten, werde ein wenig erzählen, und ich werde die jeweiligen Stationen nutzen, um dann eine Portion ins Allgemeine aufzuholen.

Nun, die erste Station auf der Reise war ein Dorf auf der Schwäbischen Alb. Das ist jetzt schon verkehrt, denn eigentlich war es die zweite Station. Die erste Station – ich schrieb darüber – war unsere Jugendunterkunft in Bad Wurzach. Nun kann man natürlich denken, dass das Dorf auf der Schwäbischen Alb so etwas wie ein Angewöhnungs-Szenario darstellte, denn später ging es immerhin nach Frankfurt. Und ein wenig war es auch so: Wenn man eine Woche in völliger Abgeschiedenheit verbracht hat, auf einem so einsamen ehemaligen Bauernhaus, dass sogar das Taxiunternehmen vom Nachbar Ort Bad Waldsee die Adresse kaum fand (Unterhub 1), dann ist ein Dorf mit 1000 Einwohnern schon ein Kulturschock, ein Faktor Tausend, der dann durch einen Faktor 800 abgelöst wird. Man stelle sich vor, jemand ginge vom Unterhub direkt an den Frankfurter HBF, er würde das nicht verkraften…
Der wahre Grund für die Schwäbische Alb war aber ein Verwandtenbesuch.

Die Schwäbische Alb also.
Für alle, die in den Geographiestunden immer geschwänzt haben: Die Alb liegt südlich von Stuttgart und nördlich vom Bodensee und gehört zum riesengrossen Felsengarten des Jura, der sich ja praktisch von Frankreich bis Franken erstreckt. Die Juraböden haben eine Eigenschaft: Sie sind für die Landwirtschaft nicht geeignet. Macht nix, wenn man Wanderer ist, da erfreut man sich an den typischen Wacholdersträuchen und an den Schafherden (die es für den Wacholder braucht, denn die Schafe fressen das Gras, das den Wacholder ersticken würde, ihn selbst verschmähen sie). Macht sehr viel, wenn man Bauer ist, weil dann die Familie arm ist und arm bleibt. Die Albschwaben haben nun drei Strategien entwickelt, mit dieser Armut umzugehen:

Erstens: Auswandern.
Im vorigen Jahrhundert haben so viele das Land verlassen, dass man weder in Florida noch in San Francisco irgendwo hingehen kann, ohne auf einen Häberle, Pfleiderer, Hailer oder Enderle zu treffen.

Zweitens: Burgen bauen, Kaiser werden und Kriege führen.
Die Schwaben sind eigentlich das friedlichste Volk, dennoch steht bei Hechingen (und damit auch gar nicht unweit von meinem Besuchsziel) die Burg Hohenzollern. Und die Hohenzollern stellten ja die Deutschen Kaiser – die Preussen waren also Schwaben, so wie die Habsburger Schweizer sind. Sie haben die Burg sicher ein paar Male im TV gesehen, wenn über den unsäglichen aktuellen Hohenzollern-Chef berichtet wurde, der, der alles wieder haben will.

Drittens: Erfindungen
Nehmen Sie mal irgendeinen beliebigen Gegenstand in Ihrer Nähe: Die Wahrscheinlichkeit, dass er auf der Schwäbischen Alb erfunden wurde, liegt bei fast 100%.

Aber wir haben abgeschweift. Wir waren ja beim Verwandtenbesuch.
In das Dorf, das ich nun nicht näher benenne, hatte mich eine Verwandte eingeladen. Sie kennen das: Man schreibt sich, man telefoniert, man whatsappt, man SMSt, und stets betont man, dass man sich einmal sehen müsste, und dann kommt dieser wunderbare Dialog:
«Ihr dürft gerne einmal kommen, Ihr seid herzlich eingeladen…»
«Ja, da müssten wir mal schauen. Ihr seid aber auch herzlich eingeladen.»
«Ja, da müssten wir…»
Und es passiert nix.

Und nun hatte ich auf der Karte gesehen, dass wir sehr, sehr, sehr nahe an dem betreffenden Orte waren. Und ich machte Nägel mit Köpfen. Nach dem Motto:
Wann, wenn nicht jetzt – so nahe sind wir nie wieder in den nächsten Jahren.

Warum erklärt man das eigentlich nicht zum allgemeinen Prinzip?

Die Stadtkasse der Gemeinde X hat (warum auch immer) einen Überschuss von 500000 Euro. Und das Dach vom Hallenbad hat zwei grosse Löcher.
Wann, wenn nicht jetzt – so viel Geld hat man nicht so schnell wieder zur Verfügung.
Aber man diskutiert zu lange, und als man endlich entschieden hat, ist das Geld versickert.

Eigentlich sollte die Politikerin Y auf einer Konferenz in Asien sein, die wurde aber wegen Taifun abgesagt. Und sie müsste drei Akten durcharbeiten, um endlich das zu verstehen, wovon sie seit einem halben Jahr redet.
Wann, wenn nicht jetzt – so viel Zeit hat man nicht so schnell wieder zur Verfügung.
Aber natürlich verschwinden die vier Tage in einem grossen, grossen, grossen Schwarzen Loch.

Nein.
Ich habe also Nägel mit Köpfen gemacht und zwei wunderschöne Tage auf der Schwäbischen Alb verbracht.
Und an einem Abend schauten wir alte Fotos an. Mein Lieblings Foto ist eines, auf dem ich mit acht Jahren auf dem Harmonium des Vaters meiner Verwandten spiele.
Mit unmöglicher Fingerhaltung.
Aber ich hatte ja noch Zeit zum Umlernen.

So, am Freitag geht es dann weiter nach Frankfurt.