Freitag, 6. Mai 2022

Schulden gestern und heute

Ich habe ja schon viele Posts darüber geschrieben, dass bestimmte Dinge zurückkehren. So, als ob die Geschichte sich stets wiederholt.
Nun ist auch eine wunderbare Sache wieder da, eine Sache, mit der sich Generationen beschäftigten und scheints viel Freude machte (sonst wäre sie ja ausgestorben):
Das Schuldenmachen.

1920 war meine Urgrosstante Eulalie Binder immer etwas klamm. Eigentlich hätte ihr Geld gereicht, wenn sie beim Geschäft «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» nur Mehl, Äpfel und Linsen gekauft hätte, aber für Eulalie war nur das ganz Gute das wirklich Gute – vielleicht lag das am Namen. Und so musste es oft auch Reis und Kaffee, oder sogar Konserven mit Südfrüchten sein und dafür langte das Geld, das bei «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» für Mehl, Äpfel und Linsen gereicht hätte nicht. Und so sprach meine Grosstante die magischen Worte: «Ich lasse es anschreiben.» Und dann passierte das Folgende: Der Lehrling schritt zur grossen Schiefertafel, die bei «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» hinter der Ladentheke hing, und änderte durch Auswischen und Hinschreiben
E. Binder 2,30 RM
in
E. Binder 2,90 RM.
Er, also der Lehrling, tat das natürlich mit keinem Stift, der Stift nahm keinen Stift, das ist jetzt ein schönes Wortspiel, sondern er tat das mit Kreide, deswegen sagen wir noch heute «in der Kreide stehen».
Aber irgendwann war der Betrag, der da in Kreide stand, für «Rupert Meyer und Söhne – Lebensmittel und Kolonialwaren» dann doch zu hoch, und Eulalie musste zahlen, wie sie das auch immer anstellte.

Eine gute Sparmöglichkeit war, ihrem Mann August-Heinrich das Geld zu kürzen, das er in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» vertrinken durfte. Eigentlich durfte August-Heinrich am Freitag- und Sonntagabend in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» je zwei Bier und zwei Kurze trinken, aber wenn das Geld knapp wurde, gab Eulalie nur das Geld für EINEN Abend mit EINEM Bier und EINEM Kurzen, was Urgrossonkel August-Heinrich dazu verleitete, am Freitag, Samstag und Sonntag zu gehen und dann je drei Gläser von jeder Sorte zu nehmen. Denn auch in der «Schankwirtschaft zum Goldenen Schwan» konnte man natürlich – Sie ahnen es längst – anschreiben lassen.

Dann kamen die 50er, die Zeit des Wirtschaftswunders und des Aufschwunges, und man wollte plötzlich alles auf einmal: Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine. Das waren natürlich nicht mehr Eulalie und August-Heinrich, sondern ihre Enkelin Hilde (eine Kusine dritten Grades von mir) und ihr Mann Robert. Und weil Robert und Hilde selbstverständlich nicht so viel Geld hatten, alles aufs Mal zu bezahlen, nutzten Sie das perfekte System der Ratenzahlungen. Und so zahlten sie monatlich Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine ab und es gab Abende, wo Hilde Listen machte, und auf die Summen starrte, die die Raten für Radio, TV, Staubsauger, Mixer, Kühlschrank und Waschmaschine ergaben. Ja, es gab dann sogar Zeiten, in denen der Grundig schon kaputt war, aber immer noch abbezahlt wurde, und der neue Philips auch schon wieder abgestottert werden musste…

Ja, und dann kam das Internet und damit eine gute Kontrolle: War die Kreditkarte am Anschlag, gab es nichts mehr, weil die Online-Versandhäuser den ganzen Betrag wollten, und weil AMERICAN EXPRESS® (gab es damals noch), DINER`S CLUB® (gab es damals noch), VISA® (gibt es noch) und MASTERCARD® nicht mit sich handeln liessen.

So weit so gut.
Leider ist auf eine teuflische Art das Schuldenmachen zurückgekehrt.
BUY NOW – PAY LATER, so heisst das diabolische System. Es gleicht im Grunde genommen dem Anschreiben und dem Abstottern der 50er. Der Onlinehandel schickt mir meine Ware sofort, und ich kann mich irgendwie darum kümmern, wie ich sie in 5-11 Schritten bezahlt bekomme.

Allen Arten, Anschreiben, Abstottern, BUY NOW – PAY LATER liegt der gleiche Denkfehler zugrunde: Wenn ich 200,-- im Monat übrighabe, kann ich sparen und mir nach fünf Monden eine schöne Sache für einen Tausender leisten, wenn ich KEINE 200,-- im Monat übrighabe, und ich kaufe mir dennoch JETZT etwas für 1000 Franken, woher sollen dann die Raten kommen?
Warum spart man nicht auf etwas? Das ist zwar langwierig und geduldprobend (sic), aber es kommt die schönste aller Freuden hinzu:
Die Vorfreude.

Tante Eulalie liess im Laden anschreiben – ihr Gatte August-Heinrich in der Kneipe. Ihre Enkelin bestellte in der 50ern technische Geräte und stotterte sie ab.
Heute übt man sich im Buynowpaylater.
Die Zeiten haben sich nicht geändert.





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