Freitag, 31. Mai 2024

Ist Duck Face schön?

In dem wunderbaren Film «Vier Hochzeiten und ein Todesfall» sagt der Hauptcharakter Charles zu Henrietta, einer seiner Verflossenen, es wäre gut gewesen, wenn sie geheiratet hätten. Sie entgegnet, dass sie keine Lust gehabt hätte, seinen Freundeskreis zu treffen – speziell Fiona. «Fiona liebt dich!», kontert Charles. «Sie nennt mich Enten-Gesicht», so Henrietta. Charles beteuert, das noch nie gehört zu haben. Sie weiss, dass er lügt.
Momente später – Henrietta ist gerade gegangen – kommt Fiona vorbei und sagt: «Wie geht es Enten-Gesicht?»

Entengesicht also.
Duck Face.
In den 80ern, in denen der Streifen entstand, war es demnach kein Schönheitsmerkmal, einen Schnabel wie Donald oder Daisy zu haben. Auch die Ausstellung DUCKOMENTA, die ja Klassiker der Malerei kopierte, allerdings eben mit Entenschnabel, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sie habe die Mona Lisa und den Goethe verunstaltet, niemand sagte, die DUCKOMENTA habe diese Portraits verschönert.

An alles das muss ich immer wieder denken, wenn sich junge Mädchen mir im Bus gegenübersetzen, deren Lippen eindeutig an Donald oder Daisy erinnern. Und sie – das ist der grosse Unterschied – haben nicht wie Henrietta von Natur aus mit wulstigen Lippen zu kämpfen, nein, sie haben sich Zeugs reinspritzen lassen.
Duck Face.

Im 20. Jahrhundert waren es vor allem die Brüste, die man mit Kunststoff aufmöbelte. Im 21. Jahrhundert brachen dann die Dämme und jeder Körperteil wurde mit diversen Kunststoffen vergrössert.

Der Po zum Beispiel. Auf einmal war es Mode, einen breiten, grossen und wuchtigen Hintern zu haben. Und dieser grosse, breite, wuchtige und fette Hintern kam von der Kardashian und wurde deshalb auch als Kardashian-Po bezeichnet. Inzwischen hat Kim sich das ganze Material wieder rausnehmen lassen und alle Followerinnen müssen es ihr gleich tun.
Dasselbe wird auch mit den Entenmündern passieren…

Welcher Körperteil war eigentlich noch nicht dran?
Gut, Leber, Herz, Niere, Galle, Magen, Darm und das Hirn, aber das zählt nicht. Ich meine natürlich die sichtbaren.
Was wurde noch nie mit oder ohne Silikon vergrössert?

Im alten Ägypten galten übergrosse Pupillen als unbedingtes Schönheitsmerkmal. Um das zu erreichen, kauten die Ägypterinnen Blätter der Tollkirsche. Dies vergrösserte die Pupille und hatte nur ganz leichte Nebenwirkungen, manchmal blieb das Auge starr und manchmal erblindete man völlig.

Und die Nase? Da ist man nun ganz gespalten, weil man nun eben in Deutschland eine Geschichte hat, in der grosse und gebogene Nasen eine Rolle spielen, deshalb lässt man das Thema «Nase und Beauty» lieber aus…

Ich selbst habe ja grosse Ohren.
Diese Ohren sind ein Familienkennzeichen, alle H…s haben grosse Ohren, und angeblich soll der Arzt bei der Geburt einer meiner Vettern zur Mutter gesagt haben: «Gucken Sie den mal an, wenn ich den in die Luft werfe, dann fliegt er.» Die grossen Ohren haben mir in meiner Musikerlaufbahn sehr geholfen, denn viele Leute denken, dass grosse Ohren auch ein gutes Gehör bedeuten. Das ist natürlich totaler Unsinn, denn es kommt ja auf das Innen- und nicht auf das Aussenleben des Ohres an, also auf Hammer, Amboss und Steigbügel und das Trommelfell und nicht auf die Muschel.

Aber dennoch: Ich warte darauf, dass grosse Ohren schön werden, und in Vorbereitung darauf werde ich mir im Sommer meine Ohren mit viel Silikon vergrössern lassen.
Elefanten-Ohr.
Elephant Ear.
Passt sehr gut zu
Duck Face.
Entengesicht.

Und wenn irgendwann die grossen Ohren wieder aus der Mode kommen, ja, dann lasse ich mir , einen Termin bei Prof. Dr. Jens Blümlein geben, jenem bekannten Arzt, der davon lebt, dass er Kunststoff aus Körpern herausnimmt, und ich werde dort im Wartezimmer mit vielen Kardashian-Pos sitzen, mit Duckfaces, mit Silikonbrüsten, die alle ihre Polsterungen wieder los sein wollen.

Es gibt jedes Jahr die Kampagne «Brot statt Böller», mit der man der sozialen Unterschicht die Sylvesterknallerei madig macht, und damit eine der wenigen Freuden, die sie noch haben.
Ich lanciere jetzt die Parole «Brot statt Busen», wenn wir alle nur ein Jahr auf das Aufpolstern von sichtbaren Organen verzichten, also auf Duck Faces, auf K.-Pos, auf Elefantenohren und Silikonbusen, dann wäre die Welt ernährt.

 

Dienstag, 28. Mai 2024

Mehrere Tage auf einmal

Ich bin neulich auf einer Öko-Wiese gesessen und habe dem Klatschmohn und den Ranunkeln Frühlings- und Sommergedichte vorgelesen.

Wenn Sie jetzt meinen, ich wollte mich in die Reihe der Heiligen, die der Natur predigten, einreihen, so ist das ganz falsch, es ehrt mich nun aber doch. Immerhin hat ja der Heilige Franziskus von Assisi den Vögeln gepredigt und der Heilige Antonius von Padua zu den Fischen gesprochen, und es gibt schon Tage, da fühle ich mich sehr heilig, sehr, sehr heilig – obwohl ich weiss, dass meiner Heiligsprechung etliche Sachen entgegenstehen, zunächst einmal die harten Fakten: Ich bin evangelisch und lebe noch.

Ich bin neulich auf einer Öko-Wiese gesessen und habe dem Klatschmohn und den Ranunkeln Frühlings- und Sommergedichte vorgelesen.

Und jetzt sage ich Ihnen den wahren Grund: Ich sah mich gezwungen, ein paar Gedenk-, Gedächtnis- und Mahntage zusammenzulegen.
Schon mehrere Leute haben ja darauf hingewiesen, dass wir inzwischen praktisch jeden Tag des Jahres mit irgendwelchen Sachen belegen, da gibt es den «Tag des Hundes» und den «Tag der Katze», da gibt es den «Welt-Kaffeetag» und den «Welt-Teetag» und so geht es gerade weiter. Timo Lokoschat hat in seinem lustigen Buch «Es wird eng im Kalender» schon 2010 humorvoll darauf hingewiesen. (ein Pleonasmus, ich weiss) Und das war vor 14 Jahren! Die Gedenktage sind ja nun nicht weniger geworden…

Nun kam ich aber auf die Lösung: Parallelität. Hierzu muss man für sich privat nur Tage zusammenlegen, d.h. den Tag X, der am 4. Juni wäre und den Tag Y (am fünften) an EINEM Tag zu begehen. Menschen, die am Valentinstag Geburtstag haben, machen das jedes Jahr (so wie ich), oder Leute, die am Weihnachtsfest geboren wurden.
Warum nicht am «Tag des Hundes» auch den «Welt-Kaffeetag» feiern und die Doggen statt mit Wasser mit Espresso tränken? Warum nicht den «Tag der Katze» und den «Welt-Teetag» fusionieren und den Miezen Darjeeling zum Saufen geben?

Nun, und so stiess ich auf drei Termine:
Schweizer Vorlesetag am 22. Mai 2024
Tag der Biodiversität – weltweit und auch am 22. Mai!
Tag der Guten Tat, CH und am 25. Mai
Und diese drei Tage legte ich nun zusammen, und zwar in die ungefähre Mitte:

Ich bin am 24. Mai auf einer Öko-Wiese gesessen und habe dem Klatschmohn und den Ranunkeln Frühlings- und Sommergedichte vorgelesen.

Natürlich – wie immer, wenn man etwas gemacht hat, etwas überlegt und bewerkstelligt hat – gab es Kritik.

Die Fraktion der «Vorlesetagler» bemängelte, dass ich Pflanzen etwas vorgelesen habe, was diese weder hören noch verstehen könnten. Dies musste ich als unberechtigte und unsinnige Bemerkung zurückweisen. Es gibt längst die Theorie, dass auch Bäume, Büsche und Blumen sehr wohl hören. Nur viel langsamer als wir Menschen. Deshalb KÖNNTE ich mir die Kritik gefallen lassen, mein Sprechtempo sei ein wenig zu hastig gewesen, eventuell hätte ich statt

Frühling lässt ein blaues Band

Ffffffffffffffffffffrrrrrrrrrrrrrrrüüüüüüüüüüüüüüüüühlllllllllllllllliiiiiiiiiiiiiiiiiiingngngngngngngng  ssssssssssssssssssssaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaainnnnnnnnnnnnnnnnnnn blllllllllllllllllllllllllllllaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaoooooooooooooooeeeeeeeeeeeeeeeeessssssssssss Baaaaaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnt

sagen müssen, aber sei es drum.

Die Verfechter der Biodiversität bemängeln nun, dass ich mich eventuell nicht um alle Tiere und Pflanzen gekümmert habe, und das wäre dann nämlich nicht biodivers. Gut, ich muss zugeben, dass ich einige Tiere ganz un-biodivers verscheucht habe. Zum Beispiel die Wespe, die mich genau während der Zeile «nun muss sich alles wenden» in den Arm stechen wollte. Und auch die Grille, die während «horch, ein leiser Harfenton» so einen Lärm machte. Von den Ameisen ganz zu schweigen. Nein, so ganz biodivers nach strengem Kriterium war ich nicht.

Und die «gute Tat»? Auch hier werde ich angegriffen, obwohl der Begriff der g.T. so schwammig ist, dass alles irgendwie darunterpasst. Eine Wurfzeitung hatte eine Liste für eilige Leute gemacht, und diese Liste enthielt sogar das Lächeln, das man dem Entgegenkommenden schenkt (mache ich stets, nicht nur im Mai) und das Registrieren auf einer Spenden-Plattform, nach dem Motto «auch die Ankündigung ist schon was».
Nein, wenn Lächeln und Registrieren schon g.T. sind, dann das Wiese-Lesen auch.

Ich bin am 24. Mai auf einer Öko-Wiese gesessen und habe dem Klatschmohn und den Ranunkeln Frühlings- und Sommergedichte vorgelesen.
Und ich bin stolz darauf.
Und werde das nächstes Jahr wieder tun.

Freitag, 24. Mai 2024

Südamerika (10): Fazit und Abschluss

So, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Leserinnen und Leser, es ist Zeit, Südamerika abzuschliessen und uns dann wieder aktuellen und wichtigen Themen zuzuwenden.
Immerhin ist doch einiges passiert in der Welt – zum Beispiel hat die neutrale Schweiz non-binär den ESC gewonnen…

Was ist nun das Fazit der Reise? Was habe ich gelernt, erlebt, erfahren? Ich mache das jetzt pädagogisch-didaktisch so geschickt, dass ich an allen Themen noch einmal vorbeikomme. (Dies für die Leserinnen und Leser, die (als Selber-Schreibende) hier vor allem auf der Metaebene lesen.) 

Ich habe endlich einmal wieder eine RICHTIGE Reise gemacht, eine RICHTIGE Reise, zu der langer Flug, Pass, Impfung und Geld wechseln gehört. Und auf dieser RICHTIGEN Reise bin ich insgesamt 22 Stunden (also fast einen ganzen Tag) geflogen, war geimpft, bekam tolle Stempel in meinen Pass und habe Franken in Real und Real in Pesos umgetauscht.

Ich habe mich an der Exaktheit der Brasilianer erfreut, zum Beispiel, wenn im Café mein Brownie auf das Gramm jeden Tag genau abgewogen wurde, und ich nie wusste, ob ich eventuell 7,09 Real zahlen muss – statt 7,08 Real wie gestern. Ich habe mich übrigens dann auch daran gewöhnt, dass diese Exaktheit sich nicht auf solche Dinge wie den Beginn von Veranstaltungen bezieht.

Ich habe erlebt, was für Höllenqualen ein Mensch ohne Akku bekommt und ich habe erlebt, was für ein Glücksgefühl es ist, wenn das Handy wieder funktioniert. Und ich habe auch mitbekommen, dass es Mobilfunkläden und Nagelstudios auf der ganzen Welt auch im kleinsten Ort gibt, im entlegensten Kaff, Handy-Shop und Nails sind schon da.

Ich habe erlebt, was «katholisches Land» heisst: Volle Kirchen, Konzelebration, viel Weihrauch, viel Weihwasser und viel Spiritualität; und ich habe auch erlebt, dass bei vollen Kirchen, Konzelebration, viel Weihrauch, viel Weihwasser und viel Spiritualität natürlich kein Platz für Protestanten ist und zum ersten Mal in meinem Leben musste ich beiseite stehen und durfte nicht kommunizieren.

Ich habe erlebt, wie absurd es ist, tausende Kilometer von Europa entfernt Menschen Deutsch mit Tiroler Akzent zu hören, in einem Hotel mit Holzbalkonen und Fachwerk und Geranien zu logieren und am Abend einen Handorgelspieler beim Schuhplattlermelodienspielen zuzuhören. (Begleitet von seinem Sohn, allerdings dieser auf einem japanischen Klapperinstrument)

Ich habe erlebt, wie schwierig es ist, eine Grenze zwischen zwei Staaten zu überqueren, eine Erfahrung, die man in Europa ja gar nicht mehr machen kann.

Ich habe erlebt, wie unsagbar schwierig, unsagbar kompliziert, unsagbar komplex es ist, Postkarten aus Brasilien oder aus Uruguay nach Deutschland oder in die Schweiz zu schicken.
Die Bilanz ist immer noch die gleiche:
3 Karten sind in der BRD angekommen.
2 Karten sind in der BRD noch nicht angekommen.
1 Karte ist in der Schweiz angekommen.
4 Karten sind in der Schweiz noch nicht angekommen.
Wo sich diese Schriftlichkeiten zurzeit befinden, kann niemand sagen.

Ich habe erlebt, wie lustvoll und lustig man Musik machen kann und soll, und ich habe erlebt, wie ernst Musik auch manchmal sein muss. Das Gleiche gilt für Tanz. Wer nun aber Schuhplattler zelebriert und guckt wie ein Scharfrichter, der macht etwas verkehrt, genauso wie jemand, der Tango tanzt und ständig grinst. Wer bei «Der Tod und das Mädchen» lacht, macht etwas verkehrt, aber bei Operette sollte man fröhlich sein.

Und ich habe erlebt, wie wichtig der Fussball sein kann. Vielleicht werde ich in Zukunft den Jungs und Mädels, die so eifrig dem Ball hinterherlaufen, ein bisschen mehr Respekt entgegenbringen. Zumal einer der YBler, der gerade CH-Meister wurde, ein ehemaliger Schüler von mir ist…

So.
Das war das Fazit, mit dem wir alles noch einmal repetierten.
Sie können die Metaebene jetzt verlassen.

Freundinnen und Freunde, Leserinnen und Leser, es war Zeit, Südamerika abzuschliessen und uns dann wieder aktuellen und wichtigen Themen zuzuwenden.
Immerhin ist doch einiges passiert in der Welt – zum Beispiel hat die neutrale Schweiz non-binär den ESC gewonnen…

















 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dienstag, 21. Mai 2024

Südamerika (9): Der Fussball

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal an einer Stadtrundfahrt teilnehmen werde, bei der zweimal ausgestiegen wurde, um Fussballstadien anzuschauen. Aber tatsächlich war das so: In Buenos Aires schauten wir (von aussen) auf das Stadion River Plate und auf das Stadion La Boca – und meine Jungs deckten sich in den Fanshops mit den entsprechenden T-Shirts ein. Ich hätte nie gedacht, dass das passiert, aber es geschah.

Denn Fussball ist wichtig in Brasilien, Uruguay und Argentinien.

Ich bin ja kein grosser Fussballfan, ich denke, das hat sich schon herumgesprochen. An der Zahl der Posts, in denen «Fussball» vorkommt, ist das nicht abzulesen, das sind nämlich erstaunlich viele, aber dennoch: Fussball interessiert mich nicht besonders. Natürlich freue ich mich aus Lokalpatriotismus, wenn der FCB Tore schiesst, und ich freue mich aus Heimatpatriotismus, wenn Stuttgart in der Ersten Bundesliga bleibt, aber wirklich, ganz wirklich habe ich nie verstanden, warum 20 Männer (oder Frauen) hinter einem Ball herrennen, wo doch jeder (oder jede) einen haben könnte.

Dass aber Fussball wichtig ist in Brasilien, Uruguay und Argentinien, das war mir dennoch sicher klar.

Die Brasilianer haben mich mit ihrer Ballakrobatik immer fasziniert, aber vielleicht eben weil sie so un-fussballerisch spielen, so ballettös, so – jetzt sind wir mal ganz unwoke – schwul. Wie die mit dem Ball jonglieren, wie er vorne und hinten bei ihnen herunterrollt, wie das tanzt auf dem Fuss und wieder in die Luft fliegt, wie beim ganzen Jonglieren und Tanzen es völlig unerheblich scheint, ob man Tore schiesst, und wie man trotz (und wegen!) der Ballakrobatik dann doch ganze viele Goals erzielt, das hat etwas Wunderbares.

Ja, und Argentinien ist mir natürlich als Austragungsort im Gedächtnis.
Immerhin war da 1978 die WM, und die deutschen Jungs sangen – mit Udo Jürgens! – den Song «Buenos Dias, Argentina», und die wenigstens wagten leise, ganz leise, ganz piano zu sagen, dass man ja eigentlich eine Militärdiktatur nicht unterstützen sollte, ganz wenige flüsterten das (und kamen gegen den Song «Buenos Dias» nicht an).
Ich wurde ganz stark an das erinnert, denn wir waren ja nicht nur an zwei Stadien, sondern auch auf der Plaza de Mayo, auf dem die Frauen schweigend ihre Schilder hochhielten, die Schilder mit den Bildern der Männer, den Ehegatten, Söhnen, Brüdern, Enkeln, schweigend, aber doch stumm schreiend: Wo sind sie? Auf dieser Plaza standen wir ja auch…

Und dann hiess es, dass Sport immer unpolitisch sei, und dass man deshalb eben fahren würde, Udo und die Elf und der Song hatten das ja schon klargemacht.
Dass dann nur zwei Jahre, nur 24 Monate später, dass nach nur 104 Wochen der Spruch nicht mehr galt und Olympia in Russland selbstverständlich boykottiert wurde, das gehört zu den sehr ironischen Sachen.

Aber ich bin völlig abgeschweift, wir waren ja in Buenos Aires, wir waren im Stadion der Reichen, im River Plate und im Stadion der Armen, in La Boca.
Ich bin ja generell kein Fussballfan – ich erwähnte es – und so musste ich mir am Morgen noch einmal die wichtigen Stars in Erinnerung rufen, um keine Fehler zu machen, und vor allem musste ich mein Wissen kontrollieren:
Neymar
Messi
Maradona
Pelé
Zum Glück habe ich alle die Herren noch einmal auf Wikipedia nachgeschlagen.
Neymar ist Brasilianer, also ganz pfui, ganz out, ganz böse und wird auf einer argentinischen Tour verschwiegen, bitte schön.
Messi ist Argentinier und wäre Präsident, wenn er kandidieren würde. Von tausenden Wänden prangt sein Bild und alle beten ihn an.
Maradona steht kurz vor seiner Seligsprechung, wenn nicht sogar Heiligsprechung, man versucht das durchzusetzen, solange ein Argentinier (!) Papst ist.
Pelé wiederum war Brasilianer, also ganz pfui, ganz out, ganz böse und wird auf einer argentinischen Tour verschwiegen, bitte schön.
Man kann das sich so merken: Die mit «m» sind die Guten.
Mir blieb also der grosse Fettnapf erspart.

Ich bin ja kein riesiger Fussballfan, ich denke, das hat sich herumgesprochen.
Natürlich freue ich mich aus Lokalpatriotismus, wenn der FCB Tore schiesst, ich freue mich aus Heimatpatriotismus, wenn Stuttgart in der Ersten Liga bleibt, aber ich habe nie verstanden, warum 20 Männer (oder Frauen) hinter einem Ball herrennen.
Und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal an einer Stadtrundfahrt teilnehmen werde, bei der zweimal Halt gemacht wurde, um Stadien anzuschauen. Aber tatsächlich war das so: In Buenos Aires schauten wir (von aussen) auf das Stadion River Plate und auf das Stadion La Boca – und meine Jungs deckten sich in den Fanshops mit bunten Shirts ein. Ich hätte nie gedacht, dass das passiert, aber es geschah.

Freitag, 17. Mai 2024

Südamerika (8): Musik machen - lustvoll oder lustlos

 
Musik macht Freude, wir hatten bei jedem Konzert viel Spass.

Das ist jetzt ein Satz, den ich nur mit grosser Vorsicht sagen und schreiben kann. Schon im Normalfall muss man ja als Musiker immer wieder darlegen, dass man für seine Kunst Geld braucht und Geld möchte. Niemand würde sich für seinen Geburtstag ein Catering bestellen und dann mit dem Hinweis, der Koch habe doch sicher Freude an seiner Kocherei und ihm würde das Herstellen von Suppen und Saucen doch Spass machen, den Preis, den man für Suppen und Saucen bezahlt, zu drücken. Aber genau mit dem Spass und Freude-Argument wird dann dem Pianisten der gerechte Lohn verweigert. (Denn von den 5000,-- Budget sind nur noch 200,-- übrig, weil das Catering fair bezahlt wird…)
Im Falle einer Tournee ist die ganze Sache noch heikler. Ich musste immer wieder – vor allem meinen Schülern – erklären, dass ich keine Ferien gemacht habe. Konzerte, Stellproben, Üben, Trainieren, all das ist hart und langwierig, auch wenn es im Ergebnis dann lustig und lustvoll war.

Musik macht Freude, wir hatten bei jedem Konzert viel Spass.
Eines unserer lustvollsten Lieder waren die «Tres Cantos», die Knaben begannen mit imitierten Vogelstimmen, dann summten die Männer einen Basston und die Buben starteten mit «Kikiki Korirare».
Witzigerweise, ironischerweise klingt «Kikiki Korirare» fast genauso wie «Kokiriko». Sie erinnern sich: Das japanische Domino-Schlag-Ding wurde von einem Buben in der Bierbeiz in Dreizehnlinden gespielt.
Und genauso lustvoll wie unsere Buben ihr «Kikiki Korirare» schmetterten, genauso lustlos spielte der Bub dort sein Kokiriko. Sie müssen sich das vorstellen: Da sitzen Vater und Sohn in der lustigen Tiroler Bierkneipe, umgeben von fröhlichen und frohsinnigen Biertrinkern, und sie spielen lüpfige Weisen im Viervierteltakt, der eine mit dem Akkordeon und der andere mit dem Kokiriko:

Dididi da da da
Dididi da da da
Didida Didida
Dididi da da

Jedenfalls, der Bub sah aus, als ob ihm ein Messer in den Rücken gehalten würde, als ob der Vater ihn zwänge, als ob er völlig verzweifelt sei. Und eigentlich hätte er doch lustig und lustvoll schauen müssen. Unser brasilianischer Reisebegleiter erklärte mir dann, dass das Duo wirklich für Geld spiele und der Sohn quasi zur Kinderarbeit gezwungen würde. Und daher eben nicht fröhlich gucke.

Unsere Männerstimmen erlösten dann den Jungen, indem sie ein «O Lux Beata» anstimmten. Als dem Lux noch das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder» folgten, war klar, dass die KKB jetzt den Abend bestreitet und Vater und Sohn heim dürfen und trotzdem ihr Geld bekommen…
Natürlich sangen unsere Tenöre und Bässe «O Lux Beata», das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder» lustig, fröhlich und lustvoll.

Musik macht Freude. Auch Tanzen macht Freude. Und wir hatten etliche Lieder mit rasanter und schwungvoller Choreographie im Gepäck, und bei den «Tres Cantos» ging genauso die Post ab wie bei «He Lives in You» oder einem Bollywood-Chorstück.

Umso erstaunter waren einige meiner Jungs, als wir Tangotänzer in Buenos Aires erlebten. Auf einem lauschigen Platz in San Telmo, dem historischen Quartier wechselten sich zwei Paare beim Tanzen ab, die Herren im Anzug und mit viel, viel, viel Pomade im Haar, die Damen im engen roten Kleid (die eine) oder im engen grünen (die andere). Die Leute taten das sehr professionell und aber auch als Profession – nach dem Tanzen liefen sie mit dem Hut umher, um Geld zu bekommen.
Meine Jungs waren nun erstaunt, dass diese Tänzer überhaupt nicht fröhlich aussahen.
Ich musste ihnen sage, dass eben Tangotänzerinnen und Tangotänzer nicht lustig oder fröhlich aussehen, niemand lächelt oder grinst, niemand strahlt, niemand zieht die Mundwinkel nach oben, nein, man ist ernst und seriös und konzentriert, und das macht eben den Reiz des Tangos aus.
Hocherotisch – aber nicht funny.
Gespannt körperlich – aber nicht einfach happy.
So muss Tango sein.

Am letzten Tag durften wir in unserer «Stammkneipe» noch einmal Vater und Sohn erleben – natürlich einen ANDEREN Vater und einen ANDEREN Sohn. Dieses Mal sang der Sohn, der Vater begleitete; und obwohl der Sohn eher düstere Lieder sang, merkte man doch, dass auch er nicht glücklich war. Leider gab es hier keine Möglichkeit für «O Lux Beata», für das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder».
Der Bub blieb unerlöst.

Musik macht Freude.
Tanzen macht Freude.
Und wir durften beides ausgiebig tun. Und wenn jemand meint, ich sei DESHALB im Urlaub gewesen:
Sei es drum.