Die moderne Welt ist eine Welt des Stromzugangs. «Charging» ist das Losungswort des 21. Jahrhunderts und wer da noch an «Charge» (im Sinne von Rang oder Amt) oder gar «Knallcharge» denkt, der liegt verkehrt. «Aufladen» heisst die Parole und wer das nicht kann, der ist verloren. Ich selbst wurde einmal zu einem Retter eines armen indischen Managers, der sein Ladekabel im Hotel in Zürich vergessen hatte und alles, alles, alles, alles, Ticket und Hotelreservation und Termin in Basel mit Ort usw. auf dem Tablet hatte. Ich konnte ihm ein Ladekabel geben und von Olten bis Basel erreichte er immerhin 32,7 % und seine Dankbarkeit wäre nicht grösser gewesen, wenn ich bei ihm Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht hätte oder einen Druckverband angelegt hätte – falls ich das überhaupt noch gekonnt hätte, aber das ist eine andere Sache.
Aufladen in Südamerika also. Als Reisevorbereitung hatte ich mir einen Welt-Adapter sowie eine Powerbank zugelegt. Der Welt-Adapter verspricht, jede Steckdose mit jedem Stecker verbinden zu können, man könne also ein indisches Gerät an eine kenianische Dose, ein kenianisches Gerät an eine bolivianische Dose und ein bolivianisches Gerät wiederum an eine indische Dose anschliessen. Ob der Rasierer aus Delhi nun in Nairobi in die Buchse passt und der Föhn aus Nairobi in Sucre funktioniert und die Zahnbürste aus Sucre wiederum in Delhi angeschlossen werden kann, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall war der Welt-Adapter mit dabei. Ebenso die Powerbank, die nicht so originell ist, aber sehr praktisch, ein mobiler Zusatzakku, der mehrfach ein anderes Gerät laden kann.
All diese Dinge waren aber praktisch unnötig, denn die Schweizer Stecker passten in die Steckdosen dort, vor allem im Bus war das klasse, denn über jedem Platz war eine.
Wie grosse war jetzt der Schrecken, als mein Android nicht mehr lud. Und zwar in allem Kombinationen: Handy – Kurzkabel – Dose, Handy – Langkabel – Dose, Handy – Kurzkabel – Powerbank und Handy – Langkabel – Powerbank. Ein Versagen der Zusatzteile konnte also ausgeschlossen werden, man musste der grausamen, schrecklichen, harten und brutalen Tatsache ins Auge sehen. Die grausame, schreckliche, harte und brutale Tatsache lautete: Ich würde ein neues Handy brauchen.
Zu allem Überfluss passierte das nicht in der ersten Station Botucatu, sondern kurz vor Riversul. Zur Erklärung: Botucatu hat über 120000 Einwohner, eine Grossstadt mit Bischofssitz, Riversul ist – auch wenn das jetzt böse klingt – ein Dorf mit 5000 Leuten im Nowhere. Ich würde also sicher bis zu den nächsten grösseren Städten warten müssen. Solange (ich hatte noch 10% Akku) schaltete ich mein Android auf Super-Super-Super-Stromsparmodus, in diesem Modus ist nur noch Anrufempfang möglich, und auch dann kann man nur noch mit «ja», «ja» antworten, Fotos und Internet sind undenkbar.
Die ganze Geschichte nahm nun aber eine interessante Wendung. Denn es gibt in dem Ort – trotz seiner Kleinheit – einen Reparaturladen für Mobiltelefone. Im LP TEC-CELL Assistência Técnica nahm man sich meiner grossen Sorge an. Eigentlich gibt es sogar zwei Läden, denn auch im du iPhones wäre es wahrscheinlich gegangen, obwohl ich ja ein Android habe. Im LP TEC-CELL befindet sich übrigens auch noch ein Tisch, an dem Nägel gestylt werden. Das ist sehr praktisch, denn man (oder eher frau?) kann sich die Nails richten lassen, während man (frau) auf die Reparatur wartet. Auch dieses Nail-Studio ist nun nicht die einzige Einrichtung dieser Art in jenem kleinen Ort. Die flächendeckende Überziehung der Welt mit Handyshops und Nagelstudios scheint also auch im fernsten Winkel der Provinz Sao Paulo angekommen zu sein…
Der Besitzer nahm sich nun meines armen Androiden an. (Nein, nein, nein, ich habe mir parallel nicht die Nägel richten lassen, vor allem, weil ich ja zum Klavierspielen nach Riversul gekommen war und 10 Zentimeter lange Nägel, mögen sie auch noch so glänzen, sind beim Musizieren einfach unpraktisch.) Was war nun mit meinem Handy? Mein Huawei wurde genommen, mein Kabel, sie wurden zusammengesteckt, eingesteckt –
und…
und…
und…
alles funktionierte.
«Charching» leuchtete auf, und die Zahl ging von 4% auf 5% und auf 6% und immer höher. All das kann nur als kleines, nein, als grosses Wunder bezeichnet werden. Wahrscheinlich hatte sich ein mikroskopisch winziges Staubkorn so quergelegt, dass es einen Kontakt zwischen Stecker und Buchse verhinderte, diese Buchse wurde nun noch einmal gereinigt und ich mit meinem Android in Ehren entlassen – ich durfte nicht einmal etwas bezahlen.
Ich war also wieder Teil der modernen Welt. Was wäre geschehen, wenn das «Wunder von Riversul» (wir wollen es mal so bezeichnen) nicht passiert wäre? Nicht auszudenken. Ich hätte mir in der nächsten Grossstadt ein neues Gerät kaufen müssen und allein die Installation meiner Apps hätte mich den letzten, allerletzten und allerallerletzten Nerv gekostet. Oder hätte ich ein dreiwöchiges Digital Detox gemacht? Das wäre schon wegen der vielen Informationen zur Reise (…Morgen 7.30 Lobby, mit Konzertsachen…) ziemlich blöde gewesen.
Die moderne Welt ist eine Welt des Stromzugangs. «Charging» ist das Losungswort des 21. Jahrhunderts und wer da noch an «Charge» (im Sinne von Rang oder Amt) oder gar «Knallcharge» denkt, der liegt verkehrt. «Aufladen» heisst die Parole und wer das nicht kann, der ist verloren.
Und zum Glück ging ich nicht in Brasilien verschütt.