Freitag, 17. Mai 2024

Südamerika (8): Musik machen - lustvoll oder lustlos

 
Musik macht Freude, wir hatten bei jedem Konzert viel Spass.

Das ist jetzt ein Satz, den ich nur mit grosser Vorsicht sagen und schreiben kann. Schon im Normalfall muss man ja als Musiker immer wieder darlegen, dass man für seine Kunst Geld braucht und Geld möchte. Niemand würde sich für seinen Geburtstag ein Catering bestellen und dann mit dem Hinweis, der Koch habe doch sicher Freude an seiner Kocherei und ihm würde das Herstellen von Suppen und Saucen doch Spass machen, den Preis, den man für Suppen und Saucen bezahlt, zu drücken. Aber genau mit dem Spass und Freude-Argument wird dann dem Pianisten der gerechte Lohn verweigert. (Denn von den 5000,-- Budget sind nur noch 200,-- übrig, weil das Catering fair bezahlt wird…)
Im Falle einer Tournee ist die ganze Sache noch heikler. Ich musste immer wieder – vor allem meinen Schülern – erklären, dass ich keine Ferien gemacht habe. Konzerte, Stellproben, Üben, Trainieren, all das ist hart und langwierig, auch wenn es im Ergebnis dann lustig und lustvoll war.

Musik macht Freude, wir hatten bei jedem Konzert viel Spass.
Eines unserer lustvollsten Lieder waren die «Tres Cantos», die Knaben begannen mit imitierten Vogelstimmen, dann summten die Männer einen Basston und die Buben starteten mit «Kikiki Korirare».
Witzigerweise, ironischerweise klingt «Kikiki Korirare» fast genauso wie «Kokiriko». Sie erinnern sich: Das japanische Domino-Schlag-Ding wurde von einem Buben in der Bierbeiz in Dreizehnlinden gespielt.
Und genauso lustvoll wie unsere Buben ihr «Kikiki Korirare» schmetterten, genauso lustlos spielte der Bub dort sein Kokiriko. Sie müssen sich das vorstellen: Da sitzen Vater und Sohn in der lustigen Tiroler Bierkneipe, umgeben von fröhlichen und frohsinnigen Biertrinkern, und sie spielen lüpfige Weisen im Viervierteltakt, der eine mit dem Akkordeon und der andere mit dem Kokiriko:

Dididi da da da
Dididi da da da
Didida Didida
Dididi da da

Jedenfalls, der Bub sah aus, als ob ihm ein Messer in den Rücken gehalten würde, als ob der Vater ihn zwänge, als ob er völlig verzweifelt sei. Und eigentlich hätte er doch lustig und lustvoll schauen müssen. Unser brasilianischer Reisebegleiter erklärte mir dann, dass das Duo wirklich für Geld spiele und der Sohn quasi zur Kinderarbeit gezwungen würde. Und daher eben nicht fröhlich gucke.

Unsere Männerstimmen erlösten dann den Jungen, indem sie ein «O Lux Beata» anstimmten. Als dem Lux noch das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder» folgten, war klar, dass die KKB jetzt den Abend bestreitet und Vater und Sohn heim dürfen und trotzdem ihr Geld bekommen…
Natürlich sangen unsere Tenöre und Bässe «O Lux Beata», das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder» lustig, fröhlich und lustvoll.

Musik macht Freude. Auch Tanzen macht Freude. Und wir hatten etliche Lieder mit rasanter und schwungvoller Choreographie im Gepäck, und bei den «Tres Cantos» ging genauso die Post ab wie bei «He Lives in You» oder einem Bollywood-Chorstück.

Umso erstaunter waren einige meiner Jungs, als wir Tangotänzer in Buenos Aires erlebten. Auf einem lauschigen Platz in San Telmo, dem historischen Quartier wechselten sich zwei Paare beim Tanzen ab, die Herren im Anzug und mit viel, viel, viel Pomade im Haar, die Damen im engen roten Kleid (die eine) oder im engen grünen (die andere). Die Leute taten das sehr professionell und aber auch als Profession – nach dem Tanzen liefen sie mit dem Hut umher, um Geld zu bekommen.
Meine Jungs waren nun erstaunt, dass diese Tänzer überhaupt nicht fröhlich aussahen.
Ich musste ihnen sage, dass eben Tangotänzerinnen und Tangotänzer nicht lustig oder fröhlich aussehen, niemand lächelt oder grinst, niemand strahlt, niemand zieht die Mundwinkel nach oben, nein, man ist ernst und seriös und konzentriert, und das macht eben den Reiz des Tangos aus.
Hocherotisch – aber nicht funny.
Gespannt körperlich – aber nicht einfach happy.
So muss Tango sein.

Am letzten Tag durften wir in unserer «Stammkneipe» noch einmal Vater und Sohn erleben – natürlich einen ANDEREN Vater und einen ANDEREN Sohn. Dieses Mal sang der Sohn, der Vater begleitete; und obwohl der Sohn eher düstere Lieder sang, merkte man doch, dass auch er nicht glücklich war. Leider gab es hier keine Möglichkeit für «O Lux Beata», für das Lied vom Fährimaa und «Hinter em Minschder».
Der Bub blieb unerlöst.

Musik macht Freude.
Tanzen macht Freude.
Und wir durften beides ausgiebig tun. Und wenn jemand meint, ich sei DESHALB im Urlaub gewesen:
Sei es drum.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

Dienstag, 14. Mai 2024

Südamerika (7): Die Postkarten


Ach ja, die Postkarten. Davon wollte ich Ihnen ja noch ausführlich erzählen.
Aber um gleich die brennendste Frage zu beantworten: Ein Teil der Karten ist angekommen, ein Teil nicht.
Aber noch einmal der Reihe nach:

Ich fand die Postkarten in einem der (schrecklichen) Souvenirläden, die sich in der «Villa Germanica» in Blumenau disneylandmässig aneinanderreihen. Es waren keine schöne Karten, teils sehr 80er, teils 90er, teils viergeteilt, teils mit grauslicher Schrift versehen, teils vergilbt. Aber: Es waren Karten. In einem Laden hatte mir eine Dame erklärt, dass man mit dem Handy Fotos verschicken könne, so nach dem Motto «Wer nach Postkarten fragt, der hat sicher keine Ahnung von digitaler Technik.» Was nicht stimmt, denn mit fast sämtlichen Postkarten-Empfängerinnen und Postkarten-Empfängern bin ich auch SMSig oder WhatsAppig unterwegs. Und dennoch hatten sich die Herren und Damen Karten gewünscht.
Was es in dem Laden nicht gab, waren Briefmarken.

Geschrieben wurden die Karten dann in Barra da Lagoa am Meer. Warum? Einfach, weil man für Postkarten ein bisschen Ferienstimmung und Musse braucht. Und erst an den zwei wohlverdienten zwei Tagen am Strand hatte ich das Feeling und die Konzentration. Es ist ja viel einfacher eine Urlaubskarte zu schreiben, wenn man auf dem Balkon sitzt und der Rücken schon ein wenig strandgerötet ist, wenn man die Wellen im Ohr hat und ein kühles Getränk vor sich, als wenn man im Bus oder beim Abendessen oder gar beim Einsingen schreibt.

In Barra da Lagoa also, ich schrieb die zehn (!) Karten in einem Rutsch, fünf nach Deutschland und fünf in die Schweiz, darunter eine an meinen Partner, meinen Ex-Partner und meinen Erzengel (fast hätte ich Ex-Engel geschrieben…)
Zehn Karten also, für die ich nun Briefmarken brauchte.

Die Suche nach den Briefmarken gestaltete sich noch schwieriger als die Suche nach Karten. Also, nein, eigentlich war es ganz einfach, als ich es – nach x Nachfragen in diversen Geschäften verstand: Es gibt gar keine Marken und keine Briefkästen, die Briefe und Karten werden direkt im Postamt gestempelt. Hier war aber das nächste Correo (bitte das Wort merken) 6 Kilometer entfernt.

Also nicht Barra, auch nicht Porto Alegre, es war dann schon in Uruguay.
Als wir um 19.00 in Montevideo ankamen (wegen Stunden an der Grenze, Sie erinnern sich…) glaubte ich, im grössten Glück zu sein. Die Verteilung auf die Gastfamilien war direkt neben einem riesengrossen Verkehrs- und Einkaufszentrum, dieses hatte ein Correo und jenes Correo hatte bis 20.00 auf. Ich erbat mir eine halbe Stunde von meinem Reiseleiter, und diese Frist wurde mir auch gewährt.
Aber ach!
Aber ach!
Vor dem Schalter (es gab nur einen) war eine Schlange von zehn Menschen und der Mensch am Counter schien ein echtes Problem zu haben, ich verstand zwar die Verhandlungen nicht, aber allein vom Tonfall war es Problem ähnlich einem Gebietskonflikt zwischen zwei Staaten oder einer Scheidung.
Aus der Traum. In 30 Minuten nicht zu schaffen.

Am nächsten Tag war das Programm «Stadtrundgang für die Kleinen – Treffen mit den Grossen im Park – nochmal Gruppenausgang und dann Bustransfer zum Konzertort» geplant. Beim Stadtrundgang – so dachte ich – muss man doch an einem Correo vorbeikommen.
Fehlanzeige.
Im Park dann fasste ich mir ein Herz und sprach den Chorleiter des dortigen Chores an und klagte mein Leid. Er versprach mir, meine Postkarten an einem der nächsten Tage zu einem Correo zu bringen. Ich umarmte ihn und war glücklich.
Der Treffpunkt nach dem Gruppenausgang – oh Ironie des Schicksals! oh Ironie des Schicksals! – war dann übrigens direkt vor einem Correo, aber nun hatte ich ein Postamt, aber keine Karten mehr.

So weit, so gut.
Das war am 8. April.
Am 16. April wurden dann die Karten im Correo abgestempelt.
Am 27. April erreichten drei Karten Menschen in Freiburg und Berlin.
Am 5. Mai erreichte eine Karte eine Frau in Biel (Kanton Bern).
Weitere Informationen haben wir noch nicht. Die 4 Karten nach Basel, eine Karte ins Westfälische und eine nach Sachsen sind noch ausstehend.

Es stellen sich nun mehrere Fragen:
Wieso braucht man eine Woche, um Postkarten abzustempeln? Und das frage ich jetzt rein interessemässig, gar nicht im Tonfall «diese Südamerikaner», für jeden Deutschen ist das ja verständlich, wenn man in der BRD 20 Jahre für einen Flughafen, 25 Jahre für einen Konzertsaal und 30 Jahre für einen Bahnhof braucht, dann hat man für solche kleine Schwankungen ja Verständnis.
Was hat man eine Woche lang mit den Karten gemacht? Wurden Sie irgendwelchen Geheimdiensten vorgelegt? Auf Codes untersucht? Wurden Sie kriminaltechnisch unter die Lupe genommen?
Warum reisten die Postkarten nicht gemeinsam? Wäre es nicht logisch gewesen, den ganzen Stapel per Flug zum Rhein-Main-Airport zu bringen und von dort zu verteilen?
Alle diese Fragen werden wir nicht lösen können…

Ja, die Postkarten. Bis die letzte ankommt, wird das ein Thema bleiben. Auf jeden Fall durfte ich das Wort «Correo» irgendwann nicht mehr sagen, weil meine Mitreisenden die Augen verdrehten und Stöhnanfälle bekamen.









Freitag, 10. Mai 2024

Südamerika (6): An der Grenze

Ich habe den ersten der Südamerika-Posts mit der frechen Bemerkung begonnen, zu einer «richtigen» Reise gehörten Pass, Impfung, Geld wechseln und Flug.
Und jetzt muss ich noch eines dazufügen: Zu einer «richtigen» Reise gehörten Pass, Impfung, Geld wechseln, Flug und ein komplizierter, langer, langwieriger und langweiliger Grenzübertritt. Und einen solchen komplizierten, langen, langwierigen und langweiligen Grenzübertritt hatten wir in Chuí, an der Grenze zwischen Brasilien und Uruguay.

«in Chuí», das ist jetzt eigentlich falsch, denn die Grenze verläuft durch den Ort, es gibt also ein brasilianisches und ein uruguayisches Chuí, man kann einfach so vom einen Staat in den anderen laufen, in Brasilien einen Kaffee holen und in Uruguay den Kuchen dazu, oder auch umgekehrt, in Uruguay den Espresso und in Brasilien einen Brownie. Da man aber mit dem Reisecar kommt, kommt man auf der Autostrasse, und bei der Autostrasse ist nun die Zollstation und an dieser Zollstation kommt es zu dem komplizierten, langen, langwierigen und langweiligen Grenzübertritt.

Morgens um 6.00 erreichten wir die Betongebäude und erste, was wir sahen, waren Hunde. Wilde Hunde. Ca. dreissig zottige und ungepflegte Viecher trotteten über das Gelände und erinnerten mich daran, dass ich natürlich meine Gelbfieber-Impfung absolviert, ohne diese hätten mich die Uruguayer gar nicht ins Land gelassen, aber eine Tollwut-Vakzination für nicht notwendig erachtet hatte. Die Köter entpuppten sich aber als völlig harmlos, ich liess sie in Ruhe und sie liessen mich in Ruhe, ich wäre sicher nicht auf die Idee gekommen sie anzufassen oder zu streicheln.

Was taten diese Gestalten an der Grenze? Wir konnten uns ihre Anwesenheit nur so erklären: Immer wieder – so dachten wir – wird Leuten die Einfuhr von Lebensmitteln untersagt. Was tun dann die Menschen mit Fleisch, Wurst, Kartoffeln oder Brot? Richtig. Sie schmeissen Fleisch, Wurst, Kartoffeln oder Brot weg. In Container an der Grenze. Und das hat sich unter den wilden Hunden herumgesprochen. Wo Grenze, da Fressen. Also sind sie an der Grenze.

An dieser Grenze in (beziehungsweise vor) Chuí, umgeben von wilden Hunden, die enttäuscht waren, dass wir eben kein Fleisch, keine Wurst, keine Kartoffeln und kein Brot dabeihatten, erfuhren wir, dass jeder von uns ein elektronisches Einreiseformular ausfüllen musste. Diese Formulare mussten dann als PDF der Behörde übermittelt werden, und erst wenn das geschehen sei, dann dürften unsere Chauffeure mit den eigentlichen Pässen in eines der Gebäude. Also sassen wir alle auf dem Boden in der Morgensonne und tippten in unsere Smartphones, umgeben von wilden Hunden, die – wie gesagt – enttäuscht waren, weil Fleisch, Wurst, Kartoffeln oder Brot nicht gereicht wurde.

Dann hiess es warten, warten, warten, warten. Wir vertrieben uns die Wartezeit mit Spielen im Kreis, «Faul Ei», «Karate-Kid» und «Ha-He-Hu», aber auch «Faul Ei», «Karate-Kid» und «Ha-He-Hu» konnten nicht ganz darüber hinwegtäuschen, dass es doch vier Stunden wurden.
Auf der anderen Seite, also südlich von Chuí, waren es dann noch einmal eineinhalb.

Ich glaube, ein Starbucks oder eine Espressobar, irgendein Kaffee-Dingsbums, irgendein Koffeinladen hätte ein Vermögen mit uns gemacht. Egal, ob nördlich von Chuí in Brasilien oder südlich davon in Uruguay, für Espresso und Kaffee hätten wir viel Real hingeblättert, wir brauchten sie ja jetzt eh nicht mehr. Und wenn der Starbucks, die Espressobar, das Kaffee-Dingsbums, der Koffeinladen auch noch Schokolade und Chips für die Kleinen gehabt hätte, dann hätten die Besitzer noch das Dreifache verdient.
Aber da war nichts. Gar nichts.

Es stellte sich nun die Frage, warum das alles so schwierig war.
An der Grenze sitzend, den Jungs zuschauend, wie sie «Faul Ei», «Karate-Kid» und «Ha-He-Hu» spielten, den Hunden zusehend, und es schade findend, dass ich keine Esswaren dabeihatte und nach einem Kaffee lechzend, stellte ich mir die Fragen:
Sind die beiden Länder im Krieg, wenn alles so kompliziert ist?
Oder hassen sie sich wenigstens ganz, ganz, ganz fest?
Warum gibt es keinen So-ähnlich-wie-Schengen-Dublin-Raum?
Kamen andere Grenzüberschreiter besser voran?
Und, wenn ja, was war an uns so verdächtig?

Die Antworten sind übrigens verblüffend:
Die beiden Länder sind nicht verfeindet, sie haben sich gern, sie arbeiten zusammen, sie sind sogar Mitglieder des gleichen Wirtschaftsraumes, dieser Raum, der Mercosur, zu dem Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uru- und Paraguay gehören, ist allerdings weit von einem zollschrankenfreien Gebiet wie Europa entfernt.
Ja, andere Autos kamen schneller durch, es war das Alter unserer Leute, was scheints genaue Kontrolle nötig machte, wir hätten ja Kinderhändler sein können, die gekidnappte Jungs im anderen Land als Schornsteinfeger verkaufen – haben wir Schweizer ja Übung drin.

Ich habe den ersten der Südamerika-Posts mit der frechen Bemerkung begonnen, zu einer «richtigen» Reise gehörten Pass, Impfung, Geld wechseln und Flug.
Jetzt haben wir gelernt: Zu einer «richtigen» Reise gehörten Pass, Impfung, Geld wechseln, Flug und ein komplizierter, langer, langwieriger und langweiliger Grenzübertritt.
Und einen solchen hatten wir zwischen Brasilien und Uruguay.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dienstag, 7. Mai 2024

Südamerika (5): Die Welt eines fiktiven Tirols

Stellen Sie sich vor, Sie kämen nach vielen, vielen Jahren Ihre alte Tante besuchen. Ihre Tante, bei der Sie oft die Ferien verbrachten und die in ihrem grossen Haus mit dem grossen Garten alleine lebt. In diesem grossen Haus hatten Sie stets das gleiche Zimmer, und die Tante hatte in diesem Zimmer alles immer so parat gemacht, dass Sie sich wohlfühlen sollten: Das Bett mit Bayern München-Biber-Bettwäsche bezogen, ein unglaublich süsser Plüschkermit mit einer unglaublich süssen Plüschpiggy darauf, auf dem Bord viele, viele, viele Playmobilfiguren, die Karl-May-Bände griffbereit zum Lesen und auf dem Tisch Ihr Lieblingsdessert (Erdbeerpudding) und Ihr Lieblingsgetränk (Afri Cola).

Nun kommen Sie nach Jahren zurück und alles, alles ist wie ehedem: Das Bett mit Bayern München-Bettwäsche, der unglaublich goldige Plüschkermit und die unglaublich goldige Plüschpiggy, auf dem Bord die 100 Playmobilfiguren, «Winnetou» und «Schatz im Silbersee» und «Durchs wilde Kurdistan» griffbereit zum Lesen und auf dem Tisch Erdbeerpudding (Ihr Lieblingsdessert?) und Afri Cola (Ihr Lieblingsgetränk?).

Brächten Sie es übers Herz, der alten Tante zu sagen, dass nun alles anders ist? Dass Sie in weissem Damast der Marke Schlossberg® schlafen? Dass Sie keine Kuscheltiere mehr haben und skulptural eher bei abstrakter Kunst angekommen sind? Dass Gleiches auch für die Playmobil-Figuren gilt? Dass Sie sich von May inzwischen zu Houellebecq und Schirach weiterentwickelt haben? Und dass Sie als «Gute-Nacht-Snack» lieber einen guten Merlot und ein paar Scheiben Salami wünschen?

Oder bleibt alles beim Alten, Sie legen sich in die blau-rote Wäsche, streicheln den Frosch und werfen einen liebevollen Blick auf den Playmobil-Cowboy, die Playmobil-Fee und den Playmobil-Superman, fangen an wieder von Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zu schmökern und verzehren Doktor Oetker und Afri?

Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht baut oder baute sich die Tante eine Welt, die so nie gestimmt hat, vielleicht haben Sie die Bettwäsche NIE gemocht und NIE einen Plüschkermit gerngehabt, vielleicht haben Sie NIE Erdbeerpudding gegessen und alles war Tante-Wunschdenken.
Vielleicht aber ist es auch umgekehrt, und Sie sind IMMER NOCH so, wie die Tante es sich vorstellt. Vielleicht lesen Sie IMMER NOCH Karl May und trinken IMMER NOCH Afri Cola und spielen IMMER NOCH mit Playmobil.

Der entscheidende Punkt ist:
Es ist für das Gästezimmer bei der Tante, es ist vor allem für die Tante völlig, völlig, völlig, völlig egal, ob Sie damals den Jugend-Stil (der Bindestrich ist hier unbedingt notwendig, um Missverständnisse zu vermeiden!) mochten und jetzt nicht mehr, oder ob hier etwas hochgehalten wird, was immer noch so existiert oder ob hier eine Welt gestaltet wird, die eigentlich so nie da war…

Wofür jetzt die lange Vorrede?
Weil mich zwei Orte in der Provinz Santa Catarina sehr an ein solches Tanten-Jugend-Zimmer erinnerten. Aber nicht, weil dort Playmobil stand, nein, die Gleichungen heissen Zimmer = Städte und Jugendwelt = Deutschland, Österreich oder Schweiz. Denn in einigen Gemeinden im Süden Brasiliens wird eine Welt hochgehalten, die in der «Heimat» so existierte und existiert, oder die in Deutschland, Österreich oder der Schweiz so NIE existierte oder die einst existierte und in der «Heimat» als sehr, sehr veraltet gilt.

In Treze Tílias (Dreizehnlinden) fiel uns als erstes eine Sitzbank ins Auge, die von zwei Figuren in Sepplhosen und Tirolerhüten getragen wurde. Später, beim Hotel «Dreizehnlinden» ging der Spass weiter: Die Front des Gebäudes könnte 1 zu 1 in Kufstein stehen, viel dunkles Holz, Balkone mit Geranien und Heiligenbilder als Wandgemälde, innen geht es gerade so weiter, an der Rezeption mit Eiche und Nussbaum begrüsst einen eine Dame, die perfektes Deutsch mit ultrastarkem österreichischen Akzent spricht.
Treze Tílias wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vom Tiroler Kaufmann Andreas Thaler gegründet und ist so tirolerisch, wie Tirol einmal war (oder noch ist, oder nie war, siehe oben).
Abends, in der Bierkneipe, spielen dann Vater und Sohn Volksmusik, beide (natürlich) auch in Krachleder und Tirolerhut – den man sich ja lieber kauft und der einem so gut steht – der Vater spielt Akkordeon und der Sohn ein akkordeonähnliches Schlagdings, klappernd und klippernd, wirkt zunächst auch sehr tirol-volkstümlich, entpuppt sich beim Nachschlagen im Netz dann aber als Kokiriko, ein Schlagwerk ursprünglich japanischen Ursprungs, aber da alles Fake ist, macht das gar nichts, hier wird also in Brasilien Tiroler Brauchtum mit japanischen Idiophonen gemacht, wenn schon.

Treze Tílias wird dann von der «Villa Germanica» in Blumenau noch übertroffen. Dieser Freizeitpark in der von Deutschen gegründeten Stadt ist reines Disneyland. Ein Fachwerk-Nachbau reiht sich an den anderen, wenn nicht ein Holz-Nachbau danebensteht, in der Mitte ein Baum mit gefühlt 6000 Ostereiern und zum (deutschen) Mittagsessen mit Knödeln und Haxe gibt es deutschen Schlager. Das Tolle ist, dass der Alleinunterhalter zwar perfekt ausspricht, aber – so sagt mir mein Reisebegleiter – keine Ahnung hat, was er da eigentlich singt:
Weine nicht, wenn der Regen fällt
Dam dam, dam dam
Hier ist einer, der zu dir hält
Dam dam, dam dam

Immerhin bekam ich in diesem Europa-Park zwar nichts aus Marmor, Stein und Eisen, aber etwas aus Papier, das ich sehr gesucht hatte:
Postkarten, schön kitschige, alte, aber Postkarten!

Von denen noch die Rede sein wird.



        

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 3. Mai 2024

Südamerika (4): Brasilien ist katholisch

Ich habe Ihnen noch etwas verschwiegen beim Handy-Post.

Ich habe Ihnen verschwiegen, dass ich dem Heiligen Antonius etwas versprochen habe. Der gute Mann ist – wie ich herausgefunden habe – nicht nur für verlorene Gegenstände zuständig, sondern auch für verlorene Dateien, nicht mehr aufzufindende Apps, verlorenes W-Lan und nicht mehr tuendes Charching. Ob dieser Tatsache schüttelten die meisten meiner Reisebegleiter den Kopf. (Wobei die Antoniuskassen eine gute Sache sind, sie leisten soziale Hilfe auf ganz niederschwelligem Niveau.) Wer mich verstand, waren die Brasilianer.

Denn: Brasilien ist das katholischste Land der Welt. Nirgends auf diesem Globus gibt es so viele Menschen römisch-katholischer Konfession wie zwischen Amazonas und Rio Grande do Sul, zwischen Rio Juruá und Atlantik. Ca. 123 Millionen Gläubige zählt dieses Land, allerdings ist – wie in vielen Staaten – die Zahl in den letzten Jahren rückläufig. Merkwürdigerweise verliert Rom in Brasilien seine Frauen und Männer nicht ans Freidenkertum oder die Protestanten, auch nicht an den Islam, nein, an die Freikirchen (vor allem Pfingstliche).

Wir bekamen das an zwei Orten mit (also die vielen Katholiken, nicht die Abwanderung): Am Palmsonntag durften wir am frühen Abend in Botucatu in der Messe singen und am Karfreitag hatten wir ein Konzert in Xaxim.

Das Gotteshaus in Botucatu war nicht die Kathedrale, auch nicht die zweit- oder drittgrösste Kirche der Diözese, nein, eine einfache Pfarrkirche. Dennoch war der Gottesdienst gut besucht – das ist jetzt untertrieben, alle Bänke waren brechend voll; was noch faszinierender war, war die Konzelebration. Der Begriff sei hier für alle Nichtkatholiken erklärt: Mehrere Priester feiern gemeinsam einen Gottesdienst. Angesichts des mitteleuropäischen Priestermangels ist so etwas bei uns natürlich nur noch in grossen Domen an Ostern anzutreffen, wie soll man auch erklären, dass 8 Geweihte um einen Altar stehen, während irgendwelche Dörfler 50 Kilometer fahren müssen, um überhaupt zu einer Eucharistie zu kommen, oder um 6.00 aufstehen, weil der eine Pater Dorf A, Dorf B, Dorf C, Dorf D und Dorf E an einem Wochenende bedienen muss? Hier in der Provinz Sao Paulo kein Problem: Acht geweihte Männer stehen hier um einen Altar und brechen das Brot. Man hat es ja. Übrigens schien auch der Weihrauch achtfach zu sein, in dicken Schwaden wehte er durch das Gemäuer und machte für eine Weile Leib und Blut Christi unsichtbar.

In Brasilien ist die Welt eben noch in Ordnung. Umso entsetzter war man ob meines Wunsches, den Leib Christi zu empfangen, da ich Lutheraner bin, ein geradezu perverser und blasphemischer Wunsch. Meine Erklärungen, dass ich bei der Pfadfinderschaft St. Georg und später in all meinen Kirchenmusikstellen immer, stets, immerdar und mein Leben lang kommuniziert habe, wurde mit grösstem Erstaunen aufgenommen. Noch grösser war das Erstaunen, als man erfuhr, dass alle die Priester von meiner falschen Konfession GEWUSST HATTEN! Sie alle hätten schwer gesündigt und müssten nun einige Zeit ins Fegefeuer, um dies abzubüssen.

Nein, nur Katholiken dürften und ich hatte nun nicht nur selber sitzenzubleiben, nein, ich musste auch aufpassen, dass nur unsere fünf Katholiken zur Hostie schritten. Wie ein Polizist passte ich auf und hakte in meinem Kopf jeden ab, der sich Richtung Austeilung erhob: Benjamin. Frank. Ruben. Marco. Tim. Finn. (Finn? Finn? – Ich stellte ihn nach dem Gottesdienst sofort zur Rede, aber der Gute entpuppte sich als unser sechster Katholik, alles in Ordnung.)

Was ich sehr schön fand, war, dass in der proppenvollen Kirche auch noch Platz für zwei schräge Vögel war, die man bei uns sicher des Raumes verwiesen hätte. Aber bei 300 Gläubigen stören natürlich zwei Unikümmer weniger als bei 30. Die Frau mit dem wüsten Blick lief die ganze Zeit herum, brabbelte, beschimpfte immer wieder andere Leute und unterbrach auch einmal laut den Pfarrer. Und der Mann in der ersten Reihe verliess immer wieder den Platz und kam nach fünf Minuten wieder – er ging rauchen, was man an seiner unglaublich stinkenden Nikotinwolke merken konnte.

In Xaxim mussten wir uns beim Konzert am Karfreitag um das im Chorraum liegende Kruzifix gruppieren. Dieses Kreuz war nun nicht so ein minikleines wie bei uns, sondern richtig gross und richtig schwer, 4 Meter lang und 3 Meter breit und 2 Zentner schwer. Nun muss man wissen, dass am Karfreitag das Kreuz in die Kirche getragen und enthüllt wird. Bei uns schaffen das der Priester und zwei Ministranten, aber bei solch einem Teil? Wahrscheinlich – wir waren nicht dabei – haben mindestens sechs Messdiener das Kreuz geschleppt (plus Priester und Diakon), aber an Messdienern, an Ministranten hat Brasilien nun eben auch keinen Mangel.

Am Abend in Xaxim passierte nun das Unerwartete: Wir waren noch privat eingeladen, es gab Caipirinhas (für mich einen alkoholfreien), man legte eine CD mit Samba (!) auf und einige fingen an zu tanzen (!), auch jener Mann, der mir die scharfe Kontrolle meiner Jungs ans Herz legte. Sie alle werden jetzt wahrscheinlich in die Hölle kommen.
Oder auch nicht.

Ich hatte Ihnen noch verschwiegen, dass ich dem Heiligen Antonius etwas für das Charching meines Handys versprochen hatte. Der gute Mann ist – wie ich herausgefunden habe – auch für technische Dinge zuständig. Ob dieser Tatsache schüttelten meine Reisebegleiter meistens den Kopf. (Wobei die Antoniuskassen eine gute Sache sind, sie leisten soziale Hilfe auf ganz niederschwelligem Niveau.) Wer mich verstand, waren die Brasilianer.



Dienstag, 30. April 2024

Südamerika (3): Das Handy ohne Strom

Die moderne Welt ist eine Welt des Stromzugangs. «Charging» ist das Losungswort des 21. Jahrhunderts und wer da noch an «Charge» (im Sinne von Rang oder Amt) oder gar «Knallcharge» denkt, der liegt verkehrt. «Aufladen» heisst die Parole und wer das nicht kann, der ist verloren. Ich selbst wurde einmal zu einem Retter eines armen indischen Managers, der sein Ladekabel im Hotel in Zürich vergessen hatte und alles, alles, alles, alles, Ticket und Hotelreservation und Termin in Basel mit Ort usw. auf dem Tablet hatte. Ich konnte ihm ein Ladekabel geben und von Olten bis Basel erreichte er immerhin 32,7 % und seine Dankbarkeit wäre nicht grösser gewesen, wenn ich bei ihm Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht hätte oder einen Druckverband angelegt hätte – falls ich das überhaupt noch gekonnt hätte, aber das ist eine andere Sache.

Aufladen in Südamerika also. Als Reisevorbereitung hatte ich mir einen Welt-Adapter sowie eine Powerbank zugelegt. Der Welt-Adapter verspricht, jede Steckdose mit jedem Stecker verbinden zu können, man könne also ein indisches Gerät an eine kenianische Dose, ein kenianisches Gerät an eine bolivianische Dose und ein bolivianisches Gerät wiederum an eine indische Dose anschliessen. Ob der Rasierer aus Delhi nun in Nairobi in die Buchse passt und der Föhn aus Nairobi in Sucre funktioniert und die Zahnbürste aus Sucre wiederum in Delhi angeschlossen werden kann, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall war der Welt-Adapter mit dabei. Ebenso die Powerbank, die nicht so originell ist, aber sehr praktisch, ein mobiler Zusatzakku, der mehrfach ein anderes Gerät laden kann.

All diese Dinge waren aber praktisch unnötig, denn die Schweizer Stecker passten in die Steckdosen dort, vor allem im Bus war das klasse, denn über jedem Platz war eine.

Wie grosse war jetzt der Schrecken, als mein Android nicht mehr lud. Und zwar in allem Kombinationen: Handy – Kurzkabel – Dose, Handy – Langkabel – Dose, Handy – Kurzkabel – Powerbank und Handy – Langkabel – Powerbank. Ein Versagen der Zusatzteile konnte also ausgeschlossen werden, man musste der grausamen, schrecklichen, harten und brutalen Tatsache ins Auge sehen. Die grausame, schreckliche, harte und brutale Tatsache lautete: Ich würde ein neues Handy brauchen.

Zu allem Überfluss passierte das nicht in der ersten Station Botucatu, sondern kurz vor Riversul. Zur Erklärung: Botucatu hat über 120000 Einwohner, eine Grossstadt mit Bischofssitz, Riversul ist – auch wenn das jetzt böse klingt – ein Dorf mit 5000 Leuten im Nowhere. Ich würde also sicher bis zu den nächsten grösseren Städten warten müssen. Solange (ich hatte noch 10% Akku) schaltete ich mein Android auf Super-Super-Super-Stromsparmodus, in diesem Modus ist nur noch Anrufempfang möglich, und auch dann kann man nur noch mit «ja», «ja» antworten, Fotos und Internet sind undenkbar.

Die ganze Geschichte nahm nun aber eine interessante Wendung. Denn es gibt in dem Ort – trotz seiner Kleinheit – einen Reparaturladen für Mobiltelefone. Im LP TEC-CELL Assistência Técnica nahm man sich meiner grossen Sorge an. Eigentlich gibt es sogar zwei Läden, denn auch im du iPhones wäre es wahrscheinlich gegangen, obwohl ich ja ein Android habe. Im LP TEC-CELL befindet sich übrigens auch noch ein Tisch, an dem Nägel gestylt werden. Das ist sehr praktisch, denn man (oder eher frau?) kann sich die Nails richten lassen, während man (frau) auf die Reparatur wartet. Auch dieses Nail-Studio ist nun nicht die einzige Einrichtung dieser Art in jenem kleinen Ort. Die flächendeckende Überziehung der Welt mit Handyshops und Nagelstudios scheint also auch im fernsten Winkel der Provinz Sao Paulo angekommen zu sein…

Der Besitzer nahm sich nun meines armen Androiden an. (Nein, nein, nein, ich habe mir parallel nicht die Nägel richten lassen, vor allem, weil ich ja zum Klavierspielen nach Riversul gekommen war und 10 Zentimeter lange Nägel, mögen sie auch noch so glänzen, sind beim Musizieren einfach unpraktisch.) Was war nun mit meinem Handy? Mein Huawei wurde genommen, mein Kabel, sie wurden zusammengesteckt, eingesteckt –
und…
und…
und…
alles funktionierte.

«Charching» leuchtete auf, und die Zahl ging von 4% auf 5% und auf 6% und immer höher. All das kann nur als kleines, nein, als grosses Wunder bezeichnet werden. Wahrscheinlich hatte sich ein mikroskopisch winziges Staubkorn so quergelegt, dass es einen Kontakt zwischen Stecker und Buchse verhinderte, diese Buchse wurde nun noch einmal gereinigt und ich mit meinem Android in Ehren entlassen – ich durfte nicht einmal etwas bezahlen.

Ich war also wieder Teil der modernen Welt. Was wäre geschehen, wenn das «Wunder von Riversul» (wir wollen es mal so bezeichnen) nicht passiert wäre? Nicht auszudenken. Ich hätte mir in der nächsten Grossstadt ein neues Gerät kaufen müssen und allein die Installation meiner Apps hätte mich den letzten, allerletzten und allerallerletzten Nerv gekostet. Oder hätte ich ein dreiwöchiges Digital Detox gemacht? Das wäre schon wegen der vielen Informationen zur Reise (…Morgen 7.30 Lobby, mit Konzertsachen…) ziemlich blöde gewesen.

Die moderne Welt ist eine Welt des Stromzugangs. «Charging» ist das Losungswort des 21. Jahrhunderts und wer da noch an «Charge» (im Sinne von Rang oder Amt) oder gar «Knallcharge» denkt, der liegt verkehrt. «Aufladen» heisst die Parole und wer das nicht kann, der ist verloren.
Und zum Glück ging ich nicht in Brasilien verschütt.