Immer wieder
bekomme ich von Lesern Themenvorschläge. «Schreiben Sie doch mal über…», heisst
es da. Und dann kommen oft Themen, die ins Sexuelle, die ins Fäkalische,
Themen, die ins Gewalttätige oder ins Unmenschliche gehen, Ideen, die meine
Nackenhaare in eine Senkrechtposition bringen und mir die Schamesröte so sehr
in die Wangen treibt, dass ich aussehe wie nach 2 Wochen Ibiza ohne
Sonnencreme.
Stets
schreibe ich dann zurück:
Es gibt für mich noch Tabus.
Und meistens
kommt die Antwort:
??????
Das Wort scheint
uns also abhandenzukommen. Also mache ich einen Test und teile meinen Schülern
ein Blatt mit der folgenden Aufgabe aus:
DEFINIERE
DAS WORT TABU.
Das Ergebnis
ist so, wie ich es erwartet habe; 34% konnten eine richtige Definition liefern,
61% schreiben mir die folgenden Antworten:
schwartz-weisses
Tir
Computtertaste
Rauhcht mann
Musickinstrument
zum Schlagen
Dass bei
Ecxel
Fasnet (Papa
ist)
Abgesehen von
der Orthografie, die jeder Beschreibung spottet, sind die Jungens und Mädels
mit Tapir, Tabulator, mit Tabak und Tamburin, mit Tabelle und Tambour gar
nicht so weit entfernt. Aber wirklich kennen tun sie das Wort nicht.
Daher hier
noch einmal eine gültige Definition:
Ein Tabu beruht auf einem
stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk bzw. einer kulturell überformten
Übereinkunft, die bestimmte Verhaltensweisen auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie
sind universell und ubiquitär, sie sind mithin Bestandteil einer
funktionierenden menschlichen Gesellschaft. (Wikipedia)
Interessant
ist doch hier der Passus mit dem Funktionieren der Gesellschaft, eine
Gemeinschaft, die inzwischen alle Tabus über Bord geworfen hat, klappt nicht
mehr.
Kommen Sie
mir jetzt bitte nicht mit der Kunst – wollten Sie doch, ich sehe es Ihnen an
der Nasenspitze an – kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Kunst, die ja
bekanntlich Tabus brechen, mit Tabus spielen, sie zerstören und in Frage
stellen soll.
Wie wollen
Sie denn ein Tabu brechen, wenn gar keines mehr da ist? Wie wollen Sie denn
einen Skandal hervorrufen, wenn es gar nichts mehr Skandalträchtiges gibt?
Ein
Beispiel:
Als Jim
Morrison im Song «The End» zum ersten Male die Passage «…and I saw may mother,
and I said: Mother, I wanna f… you» vortrug, ging das Licht im Saal an und der
Veranstalter brach ab und scheuchte die Doors von der Bühne. Heutzutage ist
«motherfucking» ja fast ein gesellschaftsfähiges Wort, auf jeden Fall regt es
irgendwie niemand mehr auf.
Bei dem
Skandalkonzert mit Morry wäre ich übrigens gerne dabei gewesen. Genauso gerne
wie bei der Uraufführung des Sacre, bei dem 1913 die auf der Bühne Geopferten,
zusammen mit der in den Ohren der Leute völlig schrägen Musik im Publikum einen
Sturm der Entrüstung auslösten. Ebenso hätte ich (ebenfalls 1913!) gerne das
sogenannte «Watschenkonzert» gehört, bei dem die Klänge von Schoenberg, von
Webern und von Berg zu Prügeleien führten. Und natürlich hätte ich 1976 gerne
die Premiere des Chéreau-Rings erlebt, bei der der Grüne Hügel kopfstand und
sich Begeisterte und Entsetzte regelrechte Schlachten lieferten, Frisuren
wurden ruiniert, Kleider zerrissen und Handtaschen zu Schlagwerkzeugen
umgewandelt.
Mit was
wollen Sie heute noch schockieren?
Wir haben
das Tabu verloren.
Und wenn ich
wirklich die vorgeschlagenen Themen, Themen, die sexuell, fäkalisch,
gewalttätig, die unmoralisch und aufhetzend, Themen, die einen zitternd und
schamrot machen, wirklich behandelte, würde es wahrscheinlich gar niemand
aufregen.
Ausser mich
selber.
Denn für mich
existieren sie noch: Die Tabus.
P.S. Die 5%
der Schülerinnen und Schüler, die oben fehlen, haben ein leeres Blatt
abgegeben, einer allerdings kein ganz leeres, er hat noch einen Penis
draufgemalt.
Und war
damit eigentlich wieder ganz nah an der richtigen Antwort dran.